Der Schulrezitatorenausscheid fand in der Aula der Lenin-Oberschule statt. Frau Mühlewind, Frau Schwarzbrod und Frau Brosche, die Deutschlehrerinnen, nahmen im Präsidium Platz. Am Vormittag hatten sie mit Diktaten genervt, jetzt spielten sie Jurorinnen. Sie hatten aus jeder Klasse zwei Rezitatoren bestimmt, die hier antanzen mussten. Für die meisten schien das eine lästige Pflicht zu sein. Sie standen auf und stellten sich neben das Präsidium. Während sie rezitierten, kritzelte die Jury mit ernsten Mienen auf ihre Zettel. Wie gebannt sah ich hin. Von den anderen Rezitatoren bekam ich wenig mit, ich war mit dem Entziffern der Kritzeleien beschäftigt. Schrieben sie nur Blödsinn, weil sie sich langweilten und wussten, dass sie im nächsten und übernächsten Jahr hier wieder sitzen würden? Einige Rezitatoren brachten sich von vornherein um ihre Chance, weil sie die falschen Gedichte ausgewählt hatten. Mit Humor konnte man hier keinen Page 43Blumentopf gewinnen, und schon gar nicht mit einem Liebesgedicht. Verse von Max Zimmerring standen hoch im Kurs.
Frau Brosche setzte ein Ausrufungszeichen. Ich sah es genau. Und Frau Schwarzbrod schielte zweimal auf den Zettel von Frau Mühlewind. Frau Mühlewind schielte zurück. Vielleicht kannten sie die Gedichte von Max Zimmerring schon auswendig und hörten sie zum achthundertfünfundsiebzigsten Mal. Zumindest sahen sie so aus.
Es war nicht ganz einfach, drei Lehrerinnen gleichzeitig im Auge zu behalten und ihre Notizen zu erforschen. Frau Brosche schrieb am deutlichsten und Wörter wie gut oder nein. Frau Mühlewind seufzte mehrmals. Das durfte nicht wahr sein. Hier wurden immerhin Gedichte rezitiert. Ich fühlte mich wie vor dem Zeitungsständer in der Kaufhalle.
Sabine Gebhard galt als beste Schulrezitatorin. Vermutlich, weil sie wie eine Fernsehansagerin lächelte, keinen einzigen Konsonanten verschluckte, sondern sie dem Publikum entgegen spuckte. Vor allem das T hatte es Sabine Gebhard angetan. Sie sprach es so deutlich aus, dass ich mich in Acht nahm, weil ich nicht nass werden wollte. Ihr Gedicht, Brechts Lob des Lernens , trug sie mit einer Mappe aus rotem Kunstleder mit goldenem Staatswappen vor. Mit dem Staatswappen hatte man immer den Joker in der Hand. Alle anderen hier mussten ihr Gedicht auswendig können. Sabine brillierte mit ihrer Kunstledermappe.
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Nach unseren Auftritten zog sich die Jury zurück und verkündete anschließend, wer am Wettstreit der Kreisrezitatoren teilzunehmen hatte. Nur wenige Namen wurden genannt. Die meisten in der Aula schienen froh zu sein, weil es sie nicht getroffen hatte. Ich wurde delegiert – allerdings mit der Auflage, ein anderes Gedicht auszuwählen, weil John Schehr und Genossen Schulstoff war. In der Bibliothek des Klubhauses »Völkerfreundschaft« blätterte ich in Gedichtbänden und blieb bei Goethes Natur und Kunst hängen. Ich war zwölf, verstand kein Wort, und genau darin lag für mich der Reiz. Ich wollte das Gedicht so rezitieren, als hätte ich es durchdrungen, damit man mir den Bescheidwisser abnahm.
Meinen Siegen beim Kreis- und Bezirksrezitatorenausscheid folgte noch die Messe der Meister von morgen. Mein Vater mit den goldenen Elektrikerhänden baute irgendetwas, ich trug es in die Schule und gewann den Jahrgangspreis. Immer noch blieb mir Zeit bis zur nächsten Russischolympiade. Im Sommer gönnte ich mir noch einen Abstecher zur Kreisspartakiade im Rollschnelllaufen. In meinem Jahrgang war ich der einzige Starter. Die Goldmedaille war mir in jedem Jahr sicher. Ich schnallte meine Rollschuhe an und übte ein paar Tage auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Bunesen auf ihren Werksrädern wichen mir aus und beschimpften mich. Ich hörte nicht hin. Ich musste trainieren. Am Tag der Kreisspartakiade rollte Page 45ich eine Runde auf dem Parkplatz vorm Bunawerk, dann erklomm ich das Siegerpodest.
Nur manchmal wurde mir übel. Dann wollte ich weg. Olaf Knautsch aus meiner Klasse erzählte, dass man bloß nach Großkugel zum Schkeuditzer Kreuz trampen musste. Ich hatte es genau gehört. Am Schkeuditzer Kreuz war es ein Klacks, in den Westen zu verschwinden, wenn man einen Fernfahrer aufgabelte. Die Fahrer der Tanklastzüge schmuggelten gern Jungs in den Westen und verlangten dafür nichts. Man musste sich nur an die Autobahnzufahrt stellen und warten. Die Fernfahrer stopften die Jungen in die Tanks, und wer Glück hatte, überlebte, wenn die Tanks nicht völlig mit Benzin gefüllt waren. Den Fernfahrern war egal, wer im Tank ersoff. Ich träumte von Großkugel. Für meine Flucht kaufte ich schon einmal zehn Brötchen und bunkerte sie in der Mansarde. Zehn trockene Brötchen reichten, um im Tank nicht zu verhungern. Die Brötchen aus der Schkopauer Kaufhalle wurden schnell trocken und steinhart. Woche für Woche bevorratete ich mich neu. Ich traute mich nie nach Großkugel. Aber mein Fluchtproviant lag schon in der Mansarde. Meine Mutter fand sie und fragte, seit wann mir Brötchen aus der Kaufhalle schmeckten.
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Ein neues Zimmer war nicht so schnell zu finden. Ich verstaute meine Besitztümer in einem Schließfach im Bahnhof Zoo. Von hier aus war es nur ein Katzensprung in die beiden Schwulensaunen, die es damals in Westberlin gab. Abend für Abend hatte ich die Wahl zwischen einer Kabine in der Apollo-Sauna und der Steam-Sauna. Touristen übernachteten hier. Warum nicht auch ich? Hatte ich Frühdienst, weckte mich das Saunapersonal. Eines Nachts lernte ich irgendeinen Thomas kennen. Wir kifften zu viel. Ich hatte frei, und Thomas lud mich in seine Wohnung ein. Er hauste im riesigen Zimmerlabyrinth einer Kommune. Dort drehte er einen Joint nach dem anderen. Als ich den Weg zur Toilette finden wollte, stand ich plötzlich im Treppenhaus. Splitternackt. Offenbar hatte ich die Wohnungstür zugeschlagen. Aber welche? Es gab mehrere. Oder war ich im falschen Stock? Ich hüpfte ein paar Treppen hinauf und hinab. Ich klingelte irgendwo. Jemand würde mir schon öffnen. Ein erstauntes türkisches Ehepaar stand vor mir, als ich fragte: »Wohnt hier Thomas?« Wäre ich siebzig Jahre älter gewesen, hätte man für mich eine Betreuung beim Amtsgericht beantragt?
Bald hatte ich meine Schlafplätze in den Saunen satt. Auch Martin wohnte in einer Kommune. Ein Mitbewohner war gerade ausgezogen. Ich Page 47nahm den Bus zum Hermannplatz. Die Fahrt zog sich in die Länge. Als der Bus durch die Oranienstraße fuhr, bekam ich Angst. Ich kannte Kreuzberg bisher nur von Fernsehbildern der alljährlichen Krawalle am ersten Mai. Jetzt sah ich heruntergekommene Häuser und Menschen mit frustrierten Gesichtern. Das revolutionäre Kreuzberg war eine dreckige Kleinstadt mit zu groß geratenen Häusern. Und Martins Kommune befand sich nicht einmal in Kreuzberg, nur an seiner Grenze, im noch erbärmlicheren Neukölln.
Als der Bus endlich den Hermannplatz erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich erst am nächsten Tag in der Kommune verabredet war. Heute zu klingeln, wagte ich nicht. Ich beschloss, mich umzuschauen, wenn ich schon einmal hier war. Zum ersten Mal genoss ich meinen fehlenden Orientierungssinn und schlenderte durch graue Straßen, ohne zu wissen, wo ich war. Auf den zweiten Blick war Kreuzberg gar nicht so übel. Schlesisches Tor klang zwar nicht gerade nach Weltrevolution – offenbar hatten die Vertriebenenverbände hier die Straßen und U-Bahnhöfe benannt: Sie hießen Glogauer und Oppelner Straße. Das ließen sich die Linksautonomen gefallen? Und General Wrangel kannten sie offenbar nicht. Über einer Tür in der Muskauer Straße las ich das Schild Café Anal . Kreuzberg war verrückt. Und mitten in der Nacht tauchten jetzt auch noch Karawanen hupender Trabantfahrer auf und jubelten. Später füllten sich Page 48die Straßen mit Menschen, die sich in die Arme fielen und So ein Tag, so wunderschön wie heute sangen.
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