Bei der Einkaufstour zur Ladenstraße nahmen wir nicht den umständlichen Weg durch den Fußgängertunnel, sondern überquerten einfach die F 91. Einmal erwartete uns ein Verkehrspolizist am Page 68anderen Straßenende. Meine Großmutter lief zu Hochform auf.
»Nach Paragraf 27b StVO ist das in besonderen Fällen erlaubt«, sagte sie dem verdutzten Schnurrbart.
Woher sie das wisse, erkundigte er sich.
»Genosse, jedes Gesetz, das bei uns erscheint, lese ich«, sprach Oma Martha fast andächtig, nahm meine Hand und schritt am Genossen Verkehrspolizisten vorbei. An der Straßenbahnhaltestelle erzählte sie abends den Passanten, mein Zwillingsbruder Mischka würde in Moskau trainieren und werde bald als zweiter DDR-Fliegerkosmonaut nach Siegmund Jähn die Erde umkreisen. Oma Martha log, weil sie sah, dass ich mich vor Lachen bog und mir die Tränen kamen. Oma Martha konnte unverschämt gut lügen. Erzählte sie, hing ich an ihren Lippen. Oma Martha war nicht konfirmiert worden, weil sie vor der Konfirmandenstunde Brombeeren im Pfarrgarten geklaut hatte, mit blauverschmiertem Mund zum Unterricht erschienen war und bei der Prüfung vor der Gemeinde immer wieder aufstand, um den Satz zu sagen: »Herr Oberpfarrer, das weiß ich nicht.« Und als Maria, die Muttergottes, dran kam, rief sie: »Die denkt ooch, sie is was Besonderes, die Maria!« Gott war etwas für Leute, die nicht durchblickten. In der Weimarer Republik hatte Oma Martha immer KPD gewählt. »Jetzt hab ichs nicht mehr so mit der Politik«, sagte sie. In die SED trat sie nicht ein, die Page 69Politik überließ sie nun ihren beiden Söhnen, beide Genossen, und mir.
Ich war ihr Silberprinz. Keine ihrer Enkeltöchter hob sie dermaßen in den Himmel. Ging ich zum Geburtstag meiner Oma Olga, biss Martha sich auf die Lippen und nannte mich Himmelhund, Schappeklapp und Lord Kacke. Ich wusste, was es heißt, der Silberprinz zu sein. Jeder Pionier und jeder FDJler sollte sich nach der Schule in einer Arbeitsgemeinschaft nützlich machen. Das galt auch für mich. Ich konnte nicht das ganze Jahr für die Russisch-Olympiade und ein paar andere Wettbewerbe nutzen. So wurde ich meiner Vorbildfunktion nicht gerecht. Ich fuhr ins Buna-Klubhaus »Völkerfreundschaft« und ging dort zweimal in der Woche zur Kindertanzgruppe, außerdem zum Zirkel schreibender Schüler und in die Bücherei. Zu Weihnachten trat ich in der »Revue Spuk« im Spielzeugladen als Zirkusclown auf. Die Gründung des Kabaretts »Die Chlorreichen« ging leider in die Hose, und für den Zeichenzirkel waren meine Strichmännchen zu dürftig. Nur während der Hochtrainingsphase kurz vor der Russischolympiade zog ich mich aus allen Arbeitsgemeinschaften zurück.
Als ich zehn Jahre alt wurde, erschien mein erstes Gedicht im Aufwärts , der Buna-Betriebszeitung:
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Mein Vorbild
Im Jahre siebzehn wars geschehn
Die Herren mussten endlich gehen.
Das Volk die Macht nun übernahm.
Die lang ersehnte Freiheit kam.
Unter Lenins Führung
der Aufbau dann begann.
Er war sehr schwer und mühsam.
Nur langsam gings voran.
Heut geht’s im Sowjetland
vielmal so schnell voran.
Denn Lenin zeigte uns den Weg
Das Volk erkennts ihm an
Ja Lenin, diesen Helden,
werden wir stets vermissen.
Er kämpfte für das Volk.
Das sollten alle wissen!
Für die fünfte Strophe war im Aufwärts kein Platz mehr gewesen. Aber das machte nichts. Wir liefen durch Freienfelde, den Aufwärts in der Hand. Oma Martha hatte ihre Lesebrille auf, las laut vor, und ich ergänzte meine fünfte Strophe. Nur die lahme Schmidt wollte nicht zuhören.
Im Zirkel schreibender Schüler war ich der Page 71Star, Frau Metz schrieb einen Artikel im Börsenblatt über mich, und in der Tanzgruppe war ich eine Katastrophe. Frau Sohle hatte mich nur genommen, weil selten ein Junge in die Tanzgruppe wollte, und die wenigen, abgesehen von mir, schafften den Sprung zur Palucca-Schule nach Dresden oder zur Fachschule für Bühnentanz nach Leipzig. Ich verstolperte den Einsatz, hatte O-Beine und verlor bei den Drehungen das Gefühl für den Takt. Aber zwischen den besten Kinder- und Jugendtanzgruppen im Bezirk Halle tobte ein Wettbewerb, und er faszinierte mich. Als wir beim Leistungsvergleich endlich nicht mehr mit dem mickrigen Prädikat Mittelstufe sehr gut abgespeist wurden, sahen wir mit Verachtung auf die Tanzgruppen aus Merseburg und Leuna herab, die in gelben Röckchen und Schlüpfern herumhüpften, während Chris Doerk Kinder der Sonne sang. Oder sie tanzten Cancan und hoben die Röcke, aber nie die Beine. Sie hatten keinen einzigen Tanz, mit dem sie beim Leistungsvergleich punkten konnten. Wie konnte man nur so doof sein. Doch das war nicht unser Problem. Wir hatten den Olymp der Tanzgruppen mit dem Prädikat Oberstufe erklommen. Dort gab das Kinder- und Jugendballett Wolfen (Oberstufe ausgezeichnet) den Ton an. Die Wolfener waren Weltspitze und sowieso nicht zu schlagen. Aber die Tanzgruppe des VEB Waggonbau Ammendorf räumte ab und war nur ein einziges Prädikat besser als wir. Frau Sohle beobachtete sie genau. Die Page 72Ammendorfer probten vor dem Leistungsvergleich fünfmal in der Woche. Sie brillierten mit Massentänzen, in denen vierzig Mädchen zur Mazurka über die Bühne fegten. Die Ammendorfer waren beim letzten Leistungsvergleich gerade so an einer Pleite vorbei geschrammt, als sie gewagt hatten, mit dem Tanz »Der kleine Flirt« auf Erotik zu machen. Die Jury hatte den Ammendorfern die Leviten gelesen, denn das war viel zu früh für unser Alter. Frau Sohle erzählte pausenlos während der Proben im Ballettsaal. Ich hörte ihr zu. Deshalb ging ich zur Tanzgruppe.
Bei mir reichte es zu Auftritten in der Gaststätte der Kleingartenanlage »Gute Hoffnung 2« oder beim Lehrerball im B13, dem Vergnügungsbau des Bunawerks. Dort legte ich mit Sabine Gebhard, der Superrezitatorin, eine Charlestonnummer hin. Herr Pfeiler applaudierte heftig, und auch Oma Martha sah mir zu und klatschte.
Als sie siebzig wurde, hatte sie ihren Konsummarkenarbeitsplatz gekündigt. Nun wusch sie abends das Geschirr im B13 ab. Sie sammelte die Wurst- und Fleischreste und kochte sie zu Hause in Freienfelde ein. In wenigen Wochen quoll ihr Keller von Gläsern voller Wurst und Fleisch über. Ihre Kinder schüttelten den Kopf. Aber Oma Martha hielt ihren neuen Arbeitsplatz für den großen Wurf, so wie ich meine Charlestonnummer und mein Lenin-Gedicht für große Würfe hielt.
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Eine hagere Dame mit silberweißem Haar erschien in der Villa. Ich hatte Spätdienst. Etwas in ihrem Blick verriet mir, dass sie weder nach einem Heimplatz Ausschau hielt noch eine Zauberin besuchen wollte. Es war ein zögerlicher, skeptischer Blick. Zwei Männer begleiteten sie.
»Schön, dass es ein Heim geworden ist«, waren ihre ersten Worte.
Die Dame hatte hier ihre Kindheit verbracht. Die Villa hatte ihrem Vater, einem Berliner Rechtsanwalt, gehört. 1936 war die Familie nach New York emigriert. Berlin hatte die Dame seitdem nicht mehr besucht. Nun wollte sie ihren beiden Söhnen den Ort ihrer Kindheit zeigen. Nur das Mosaik an der Wand der Eingangshalle erinnerte noch an die einstigen Besitzer. Früher waren dort die Torarollen aufbewahrt worden. Jetzt standen dort Rollstühle. Ich führte die Dame durch die Residenz. Nach einer Viertelstunde dankte sie mir und verabschiedete sich.
Bei der Dienstübergabe am nächsten Tag erwähnte ich ihren Besuch. Die Äbtissin erstattete Meldung bei der Heimleitung. Frau Schwalbe bat mich umgehend in ihr Büro. Sie forderte mich auf, den Vorfall zu schildern, und wollte wissen, ob ich mich an das Gesicht der Person erinnern könne. Tage später wurde ich wieder in den Verwaltungstrakt zitiert. Neben Frau Schwalbe thronten jetzt Page 74drei graumelierte Herren, das Kuratorium der Irmgard-Breugel-Stiftung. Drei pensionierte Rechtsanwälte. Einer fragte mich, wie ich dazu käme, hier den Fremdenführer zu spielen. Ob die Person mir ihren Pass gezeigt hätte. Ich dachte an Irmgard Breugels Porträt in der Empfangshalle. 1938. Drei Villen. Großzügige Schenkung.
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