»Die können alle. Die wollen bloß nicht.«
Ich sah, hörte und schwieg. Mein erster Nachtdienst überbot alles, was ich bisher erlebt hatte. Führte Schwester Rotraud eine Show für mich auf? Sollte ich sehen, dass sie die Zauberinnen im Griff hatte? Oder sprach sie tatsächlich, Nacht für Nacht, mit ihnen in diesem Ton? Warum arbeitete sie nicht im Zirkus, als Dompteuse in der Raubtiernummer? Ausgerechnet Schwester Rotraud Page 31mochte mich. Weil ich schon um 5 Uhr morgens zum Frühdienst erschien – manchmal floh ich vor Rita und ihren Kunden – und ihr zuhörte. Nach sechs Frühdiensten hatte ich sechs Mal vernommen, dass Schwester Rotraud in ihren achtundzwanzig Dienstjahren schon viele hatte kommen und gehen sehen und früher alle hier morgens drei Tropfen Haloperidol bekommen hatten.
»Da waren sie artiger.«
Erschien ich erst um 6 Uhr zum Frühdienst, zog Schwester Rotraud einen Schmollmund. Aber ich hatte meinen Kredit bei ihr deshalb nicht ganz verspielt. Ihr Dienst dauerte bis 6:30 Uhr, und so blieb ihr immer noch eine halbe Stunde, um Geschichten über ihre Pudel loszuwerden. Schwester Rotraud nutzte die Zeit der Dienstübergabe, um für Hundehalsbänder mit Rubinimitaten, für Haarschleifen und Frolic zu schwärmen.
Die Dienstübergabe war zwei Wörter lang.
»War nüschd.«
Frau Schwalbe war Oberpfleger Rolfs Charme verfallen. Regelmäßig kaufte er für die Zauberinnen ein und gab die Quittungen in der Verwaltung ab. Offenbar hatte nie jemand einen Blick auf die Quittungen geworfen. Eines Tages erschien Frau Schwalbe, reichte ihm mit eiskaltem Blick ein Kuvert und verschwand. Rolf las und verließ die Station 1. Für immer. Frau Schwalbes Brief hatte er auf dem Tisch liegen lassen. Darin fragte Frau Schwalbe, warum er Stringtangas für Patientinnen kaufe. Page 32Oberpfleger Rolf erhielt Hausverbot. Das stand am nächsten Tag an der Pinnwand. Er rächte sich. Mit ihm verschwanden vier Pflegerinnen, unter ihnen Schwester Gisela. Die Karawane zog in die nächste Pflegeeinrichtung. Schwester Rotraud blieb. Mir teilte Frau Schwalbe auf einem Zettel mit, dass ich auf Station 4 versetzt werde. Ab morgen.
Station 4 war eine bröckelnde Villa, eine Minute vom Haupthaus der Residenz entfernt. Die Stationsschwester dort wurde die Äbtissin genannt. Wortlos wies sie mir einen Platz am Tisch im Schwesternzimmer zu und nestelte nervös an der Strickjacke, die sie über dem Kittel trug. Sie wich meinem Blick aus, als sei es ihr peinlich, dass sie sich ohne Schleier zeigte.
»Sie arbeiten in der Pflege.« Aus dem Mund der Äbtissin klang das, als wäre ich mit diesem Satz geweiht und gewarnt worden. Die Äbtissin wiederholte ihn oft. Sie arbeiten in der Pflege. Ich hatte das große Los gezogen.
»Ihr Arbeitsplatz ist Motivation genug.« Mantra Nummer zwei. Mit jeder neuen Weisheit gab die Äbtissin mir neue Rätsel auf. Ich kaute auf ihnen herum, wiederholte sie, lotete sie aus und konnte sie nicht vergessen. In der Villa arbeiteten meist drei Pflegekräfte im Frühdienst. Gemeinsam betraten wir jedes Zimmer. Zwischen uns existierte eine unausgesprochene und exakt definierte Arbeitsteilung. Jede Pflegekraft wiederholte bei jeder Zauberin dieselbe Tätigkeit. Alles musste so Page 33schnell wie möglich gehen. Ich verglich uns mit einem Heuschreckenschwarm, der unerwartet über ein Zimmer hereinbrach und ebenso schnell wieder verschwand. Die Äbtissin richtete die Gardinen, besprühte die Nachtschränke mit Desinfektionsspray, und als seien diese Tätigkeiten nicht aufregend genug, begrüßte sie die Zauberinnen jeden Morgen mit der Frage: »Na, wer bin ich?«
Die Mittagspause wurde zur Folter. Die Äbtissin erschien im Personalraum – grundsätzlich als Erste, niemand durfte vor ihr mit der Pause beginnen – und verteilte das Mittagessen für das Personal. Undenkbar, dass jemand außer ihr eine Kelle in die Hand nahm. An der Gemüseportion und der Anzahl der Fleischstücke auf dem Teller konnte jede Pflegekraft ihren aktuellen Rang auf der Beliebtheitsskala ablesen. Nach dem Essen war das Lesen einer Zeitung nicht erwünscht. Die Äbtissin duldete keine Widerrede. Ihr Kontrollzwang war grenzenlos. Eines Tages sagte sie mir, sie freue sich, weil ich so sauber sei. Denn sie habe durch das Schlüsselloch der Umkleidekabine gespäht und gesehen, dass ich jeden Tag eine frische Unterhose trage. Da fragte ich mich, ob die Äbtissin log oder zum Augenarzt musste. Ich trug keine Unterhosen. In die Schubladen der Schrankwand im Pausenraum hatte sie Zettel ausgelegt. HIER GIBT ES NICHTS ZU STEHLEN! IHRE ARBEITSZEIT IST ZUM ARBEITEN DA! In jeder Schublade, die ich öffnete, fand ich dieselbe Nachricht.
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An meinem dritten Tag in der Villa hatte die Äbtissin frei. Alle Zauberinnen wollten heute im Bett bleiben. Das hatten wir am Morgen beschlossen. Die Medikamente schütteten wir in den Ausguss. Gemeinsam standen wir vor dem Waschbecken und freuten uns darüber, wie die Brausetabletten sprudelten. Wir benahmen uns wie Kinder, die randalieren, weil Mutti nicht zu Hause ist. Die Äbtissin blieb den ganzen Tag lang Thema, das Erwähnen ihres Namens war eine Fanfare, mit der zum nächsten Meckermarsch geblasen wurde. Klatsch ist Opium für Unterdrückte, und die Villa wurde heute zur Opiumhöhle.
Am nächsten Morgen wurde ich angerufen. Ich musste in den Nachtdienst. Heute. Bei meinem ersten Nachtdienst in der Villa durfte niemand sterben. Niemand Schmerzen haben. Niemand aus dem Bett fallen. Mir wäre es ganz recht gewesen, wenn sich in dieser Nacht niemand bewegt hätte. Ich kannte kein einziges Medikament und sollte dreißig Zauberinnen damit versorgen. Es gab einen Schrank voller Tabletten, Tropfen, Zäpfchen und Ampullen. Ich stand davor und betete. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn ich die falschen Medikamente in die Dispenser stopfte. Die Nacht sollte bloß vergehen. So schnell wie möglich. Die Zauberinnen hatten Erbarmen mit mir und schliefen. Nur Frau Mosel nicht. Sie krampfte und stöhnte. Ich rief die Bereitschaftsärztin an. Eine Stunde später Page 35erschien sie. Bis dahin schwebte ich in Angst, dass sie mich wie eine Fachkraft fordern würde und es ihr schlicht und ergreifend schnurzpiepe war, wer vor ihr stand.
Mit meinen Befürchtungen lag ich goldrichtig. Frau Doktor untersuchte Frau Mosel und rief: »Sauerstoff!«. Der Gedanke an einen simulierten Ohnmachtsanfall lockte. Es wäre doch die einfachste Sache der Welt, wenn ich jetzt zu Boden gehen würde. Frau Doktor hätte zwei Notfälle. Das lohnte sich für die Abrechnung. Ich dachte auch daran, mich in Luft aufzulösen oder in einer Türritze zu verstecken.
»Na hophophop!«
Ich rannte los. Niemand hatte mir hier etwas über Sauerstoff erzählt. Vielleicht hatte Frau Doktor eine Mund-zu-Mund-Beatmung gemeint. Eigentlich könnte sie mir beim Suchen helfen. Nein. Lieber würde ich mich auf meinen Instinkt verlassen. In der Abstellkammer stand ein Gerät mit Schläuchen und Glaskolben. Es erinnerte mich an meine Abiturprüfung in Chemie, die ich mit Pauken und Trompeten in den Sand gesetzt hatte. Etwas Brauchbareres war nicht zu finden. Ich beschloss: Das ist das Sauerstoffgerät, und schob es in Frau Mosels Zimmer.
»Na endlich!«
Ich tat so, als würde ich zum hundertsten Mal in meiner Berufslaufbahn ein Sauerstoffgerät anschließen. Vielleicht lag darin das ganze Page 36Geheimnis: so zu tun, als ob. Ich hantierte. Es musste vor allem routiniert aussehen. Bis heute weiß ich nicht, wie es mir gelang. Aber das Sauerstoffgerät begann zu arbeiten. Und die beiden dünnen Schläuche gehörten tatsächlich in Frau Mosels Nase. Auch Injektionen standen auf meiner Noch-nie-probiert-Liste. Heute war meine Nacht der Nächte. Ich sollte Frau Mosel eine Ampulle Tramadol spritzen. Wieder lief ich los. Frau Doktor hielt mich für einen Idioten, aber offenbar ahnte sie nicht, dass ich ein Idiot ohne Berufsausbildung war. Im Schwesternzimmer sah ich mich um. Wie öffnet man eine Ampulle? Ich beäugte sie. Sie war leicht und sah aus wie eine Schnapsflasche für Zwerge. Was würde passieren, wenn Frau Mosel die Ampulle austrank?
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