»Sind Sie so weit?« Frau Doktor stand in der Tür.
»Nicht ganz.«
»Lassen Sie es bleiben.« Frau Mosel war soeben gestorben.
»Wir müssen sie noch in den Kühlraum bringen, oder?«, fragte die Äbtissin am nächsten Morgen.
»Nein«, sagte ich, und es war nicht einmal gelogen. Wir legten eine Puppe mit offenem Mund und marmorierter Haut auf die Tragbahre. Frau Mosel war bereits weit weg. Ich floh aus der Villa und lief auf den Kurfürstendamm. Die Sonne blendete und schmerzte. Die Schaufenster lenkten Page 37mich nicht ab. Ich hatte Angst vor Alpträumen und wollte nicht schlafen, lief und lief. Hatte ich Schuld an Frau Mosels Tod? Warum hatte ich gebetet, als die Ärztin verschwunden war? Und was hatte ich an einem Ort, wo es einen Kühlraum für Leichen gab, zu suchen?
Von nun an würde ich die verstorbenen Zauberinnen zählen. Beim Zählen verblassten ihre Namen und Gesichter. Zugleich erinnerte mich ihr Anblick, jedes Mal und nur einen Augenblick lang, an mein Ende. Eines Tages ist Schluss.
In der nächsten Nacht weihte Pfleger Martin mich in die Geheimnisse der Dauernachtwachen ein. Frau Schwalbe hatte ihn gebeten, mal bei mir vorbeizuschauen. Vermutlich war Frau Mosels Hinscheiden der Anlass dafür gewesen. Martin arbeitete auf Station 3 und studierte im achtundzwanzigsten Semester Politologie. Er stellte (in zwanzig Minuten!) die Medikamente, rauchte dabei eine Selbstgedrehte und hielt mir einen Vortrag über Trotzki. Das gefiel mir. Auch, dass er keinen Kasack trug, sondern Lederjacke und Flickenjeans. Er war der James Dean der Altenpflege. Martin verriet mir, dass er im Nachtdienst bis 4:30 Uhr schlief. Dann schaltete er seinen Walkman ein, raste mit Kopfhörern durch den Wohnbereich, wusch fünf Zauberinnen und begoss zehn andere, die er auch waschen sollte, mit Körperlotion und Parfüm. Nun begann sein Schlussspurt: In einer halben Stunde vollbrachte er das Kunststück, weitere Page 38fünfzehn Zauberinnen in frisches Inkontinenzmaterial zu packen. Kam der Frühdienst, wirbelte er durch den Wohnbereich und sah sehr beschäftigt aus. Zur Dienstübergabe berichtete Martin über ein paar lapidare Vorkommnisse, die er schon zu Beginn seines Nachtdienstes erfunden und im Pflegebericht dokumentiert hatte. Niemand kam auf die Idee, dass er sein Geld im Schlaf verdiente, und die Kolleginnen des Frühdienstes mussten morgens keinen Inkowechsel machen. Pfleger Martin galt als erstklassig, und ich würde in seine Fußstapfen treten. Laut einer Dienstanweisung von Frau Schwalbe durfte ich ab 0:30 Uhr waschen. Was war um 0:30 Uhr anders als um 0:29 Uhr? Betrat ich um 0:31 Uhr die Zimmer und knipste das Nachtlicht an, sprangen manche Zauberinnen auf und streiften ihre Nachthemden ab. Sie saßen mit aufgerissenen Augen im Bett, streckten ihre Arme aus und kreisten damit wie Anfängerinnen beim Schwimmtraining. Wer hatte ihnen das beigebracht? Vielleicht hatte Martin Recht. Vielleicht war es besser, sie nicht aus dem Schlaf zu reißen und nur in jeder dritten Nacht zu waschen.
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Neigte sich die Saison der Russischolympiaden ihrem Ende entgegen, begannen die Rezitatorenausscheide. Ich verbuchte sie als zusätzliche Trainingseinheit. Die Vorbereitungen waren ein Klacks, gemessen an dem Aufwand, den ich für die Russischolympiaden betrieb. Ich blätterte in den Lesebüchern der höheren Schuljahre und suchte ein Gedicht aus. In der sechsten Klasse fiel meine Wahl auf John Schehr und Genossen von Erich Weinert. Das passte. Das Gedicht leierte ich am Nachmittag wieder und wieder herunter, zog die Verszeilen in die Länge, senkte die Stimme am Versende, flüsterte, fauchte, brüllte und probierte beim nächsten Versuch eine neue Version. Die Ballade gehörte mir. Ich war John Schehr. Ich war 1933 nach der Verhaftung Ernst Thälmanns Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden. Ich wurde verraten und im Wald mit drei Nahschüssen von Nazischergen erschossen. Als ich im Kinderzimmer übte und meine Meuchelmörder anprangerte, kamen mir die Tränen. Das durfte mir beim Rezitatorenausscheid nicht passieren. Ich stellte den Wecker. Mitten in der Nacht sprang ich auf, stellte mich neben mein Bett und rezitierte. Wenn ich nicht heulte, durfte ich weiterschlafen. Sonst begann ich von vorn.
Selbstverständlich war die Delegation zum Kreisausscheid mein Ziel. Dann würde der Page 40Bezirksausscheid locken. John Schehr und Genossen half mir, meinen Klassenstandpunkt zu festigen. Unsere Republik war auf dem richtigen Weg. Die Kaufhalle in Schkopau war zum fünfundzwanzigsten Gründungstag der DDR eröffnet worden. Wer darüber meckerte, weil es dort irgendetwas nicht zu kaufen gab, hatte John Schehr und Genossen nicht begriffen. Manche Kühltruhen in der Kaufhalle waren noch leer. Sie würden später im Kommunismus gefüllt werden. Aber man hatte sie für die Zeit des Kommunismus schon hingestellt. Im Kommunismus gab es kein Geld mehr. Jeder würde sich dann das nehmen, was er brauchte. Statt sich darauf zu freuen, wurde vor den leeren Kühltruhen gemault, gelästert, gezetert, gestöhnt, und manche sahen so aus, als würden sie am liebsten in die Truhen kotzen. Ich war umgeben von Konterrevolutionären, Maulhelden und hinterlistigen Kleinbürgern. Als ob die Leute hier etwas auszustehen hatten. Es fehlte ihnen an nichts. In der Werbung des Westfernsehens wurden immer prall gefüllte Obstregale gezeigt. Das war alles bloß Plastikobst, und die Kunden mussten die Werbung dort bezahlen. Die meisten Schkopauer hatten sowieso eine Vorratsmacke. Herr Kretzschmar, unser Nachbar, legte auf seinem Wochenendgrundstück in Borkwalde ein unterirdisches Depot an, in dem er Hunderte Liter Benzin bunkerte, weil er glaubte, das Benzin werde in der DDR bald rationiert. Im Keller meiner Oma Martha befand sich ein Kleiderschrank, Page 41stets von unten bis oben gefüllt mit Spee-gekörntPackungen. Horten, das konnten hier alle. Und Gerüchte verbreiten. Das Gerücht, im Bunawerk würden nachts die Filter der Karbidschornsteine abgeschaltet werden, um Strom zu sparen, war eine Frechheit. In Schkopau roch es niemals nach Chemie, ganz im Gegensatz zum Leunawerk nebenan, wo ich mir die Nase zuhielt, weil es nach Schwefelwasserstoffen stank. Hier bei uns nie, und falls doch, dann nur ein ganz kleines bisschen. Wer das nicht mochte, konnte seine Fenster schließen. Ich mochte es, wenn durch Schkopau ein Hauch von Chemie wehte. So duftete der wissenschaftlichtechnische Fortschritt. Und statt darüber zu stöhnen oder sich in der Kaufhalle darüber aufzuregen, weil im Zeitungsregal immer nur die Sowjetfrau lag, hätte es manchem hier gut getan, seine Nase in diese Zeitschrift zu stecken. Sie war bunt und informativ. Ich erfuhr dort Neues über das Leben in der UdSSR, unserem wichtigsten Bündnispartner. An der Haltung zur Sowjetunion erkennt man einen Kommunisten, hatte Ernst Thälmann gesagt. Wie konnte es dann möglich sein, dass ausgerechnet die Sowjetfrau hier immer herumlag? Niemand außer mir schien sie zu kaufen. Die Schkopauer fragten immer nach Atze mit Fix und Fax , dem Mosaik oder FF dabei . Vielleicht lag es an dem Schild Such dir eine Zeitung aus / lies sie aber erst zuhaus . Das schreckte ab. Das Schild musste weg. Ich würde das mit Herrn Pfeiler besprechen. Wir griffen Page 42nicht hart genug durch. Im Katastrophenwinter 1978 war ich, zwölfjährig, zum Bürgermeister gegangen und hatte ihm vorgerechnet, wie viele Kilowattstunden Strom in unserer Industriegemeinde gespart werden konnten, wenn wir nach 22 Uhr die Straßenbeleuchtung ausschalteten. Wer hatte hier nach 22 Uhr noch etwas auf der Straße verloren? Wir kämpften nicht dafür, dass die Schkopauer sich nachts herumtrieben und am nächsten Tag in der Kaufhalle maulten. John Schehr hätte sich im Grab umgedreht.
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