Unser Gruppenführer Bootsmann Kerner stand hinter mir und begann sofort zu toben: »Wollt ihr wohl anständig zielen, ihr Saukerle?« Der etwa 30 Jahre alte Mann war ein altgedienter Marinesoldat, mittelgroß, untersetzt und wirkte grobschlächtig. Er brülle weiter: »Seid ihr denn total verrückt geworden? Ihr habt mit eurem ersten scharfen Schuss diesen unschuldigen Schlepper, den Stolz unserer Ostseeflotte, fast auf den Meeresgrund befördert!« Er stemmte beide Arme in seine breiten Hüften und konnte sich kaum wieder beruhigen. »Das wird ein böses Nachspiel für euch Schlappschwänze haben! Wiederholung! Diesmal aber anständig! Das ist ja zum Mäusemelken mit euch Schlumpschützen. Laden! Feuer frei!« Als ich dieses Mal mit meiner Hand auf den Abschussknauf schlug, wurde ein Treffer gemeldet, der unseren Gruppenführer allerdings auch nicht besänftigte.
Am Abend folgte die unvermeidliche und angekündigte »Sonderbehandlung« zur Strafe. Dann sanken wir Angehörigen der Kerner-Gruppe erschöpft in unsere Kojen. Nachts sah ich im Traum den Schlepper in Flammen stehen und schreckte aus dem Schlaf, als die Trillerpfeife des UvD durch die Gänge schrillte. Bootsmaat Müller wirkte an diesem Morgen irgendwie vergnügt, wir konnten uns kaum erklären, weshalb der ansonsten so bärbeißige Maat heute einen beinahe friedfertigen Eindruck machte.
Eine Stunde später wurde uns klar, was uns heute erwartete. Keiner hatte bisher dem kaum wahrnehmbaren leichten Schwanken unseres im Hafen fest vertäuten Mutterschiffes größere Bedeutung beigemessen. Jetzt befielen mich und wohl auch viele der anderen dunkle Vorahnungen, als wir auf Deck über die sturmgepeitschte Ostsee blicken konnten. Kerner trieb uns noch eiliger als sonst über die Gangway in das Kanonenboot, und kaum war der Letzte unserer Gruppe an Bord, da legten wir auch schon ab und nahmen Kurs auf die offene See. Breitbeinig stand ich an meinem Platz neben der Kanone am Bug, blickte hin und wieder in die angespannten Gesichter meiner Kameraden von der Bedienungsmannschaft und hielt mich an der Reling fest. Kaum hatten wir das ruhige Wasser des Hafenbeckens verlassen, da begann unsere Nussschale zu tanzen. Wenn der Bug sich senkte und sich gegen die aufgewühlte See stemmte, übersprühten uns immer wieder kalte Wasserschleier. Die dunkelgraue Wolkendecke über uns schien von unsichtbaren Händen ohne Unterlass in alle Himmelsrichtungen gezerrt zu werden. Dabei fühlte ich mich einmal ruckartig, dann wieder sanfter hochgehoben, um danach nach links, rechts, vorwärts oder auch nach hinten abzusinken. Immer fester umklammerte ich die Reling, fühlte, wie mir abwechselnd kalt oder heiß wurde und mir der Schweiß auf die Stirn trat. Ich war tief enttäuscht, als ich schon nach wenigen Minuten krampfhaft schluckend gegen meinen rebellierenden Magen ankämpfen musste. Ich dachte: »Beginnende Seekrankheit? Wie soll das auf einem U-Boot werden! Gleich muss ich mich übergeben! – Nein, Toni, dass darfst du auf keinen Fall!« Ich konzentrierte mich. Als ich jedoch Lücker einige Augenblicke später neben mir in seinem Mageninhalt auf den Planken liegen sah, überkam auch mich Brechreiz, und mein Frühstück drängte nach oben. Lücker jammerte: »Ich werde gleich sterben. Meine Glieder sind schon bleischwer. Kameraden, ich muss sterben!« Kerner stand mit weit gespreizten Beinen federnd neben uns, stieß Lücker mit seinen Schuhspitzen mehrmals in die Seiten und brüllte zornig: »Beherrschung, Mann! Stehen Sie endlich wieder auf!«
Der Kommandant des Bootes, Oberbootsmaat Kudowsky, ein älterer Mann mit grau melierten Schläfen, verließ nun seinen Platz auf der Brücke. Er blickte drohend und spöttisch in die Runde: »Nun seht euch diese Weichlinge an! Ihr wollt deutsche Matrosen sein?« Ein unbeschreiblich verächtlicher Blick traf den immer noch auf den Planken liegenden Lücker. »Sterben könnt ihr noch früh genug! Aber nicht hier auf meinem Boot! Ein deutscher Matrose hat sich an ruppigen Seegang zu gewöhnen. Das gilt für alle! Aufstehen! An die Kanone! Wir sind gleich am Ziel!« Oberbootsmaat Kudowsky nickte Kerner kurz auffordernd zu, wandte sich um und ging mit sicherem, breitbeinigem Seemannsgang über das wankende Deck zurück an seinen Platz. Kerner tobte indessen weiter: »Jetzt haben wir endlich einmal Verhältnisse wie auf einem U-Boot im Einsatz, und ihr müden Kerle versucht schlappzumachen! So etwas gibt’s doch nicht! So eine gute Gelegenheit zum Üben haben wir nicht alle Tage. Backbord voraus sehe ich schon immer wieder unser Ziel aus den Wellen auftauchen. – Laden! Feuer frei!«
Noch heute ist mir nicht klar, wie ich meine Übelkeit bezwingen konnte. Als wir nach zahlreichen Fehlschüssen und nur wenigen Treffern fast schon bei Dunkelheit endlich wieder längsseits unseres Mutterschiffes anlegten, wankte ich mit den anderen erschöpft an Deck. Staunend sah ich einige Kameraden, die miteinander lachten und scherzten und denen dieser Seegang offensichtlich nur wenig anhaben konnte. Im Gegenteil. Als ich und viele andere schon nach den ersten Essversuchen unsere Abendrationen von uns schoben, freuten sie sich ungeniert und verzehrten mit sichtlichem Wohlbehagen zusätzlich zu ihrem eigenen auch unseren Linseneintopf mit Würstchen.
Die von uns allen befürchtete Sonderbehandlung an diesem Abend unterblieb. Bevor ich endlich einschlafen konnte, bedrängten mich starke Zweifel, ob ich mich jemals an so starken Seegang würde gewöhnen können. Wir erholten uns zwar rasch wieder, doch waren wir deprimiert und sahen unserer Zukunft als Seeleute mit Bangen entgegen.
Auch am darauf folgenden Tag hielt der Sturm unvermindert an, und ich musste im Kanonenboot den ganzen Tag mit äußerster Willensanstrengung gegen den steten Brechreiz ankämpfen. Und tatsächlich: Es gelang mir, Neptun nicht opfern zu müssen.
In den letzten Julitagen des Jahres 1942 ging unser Geschützführerlehrgang zu Ende. Wir alle waren in unseren Ausgehuniformen an Deck angetreten. Von den markigen Abschiedsworten unseres Kompaniechefs ist mir kein Wort in Erinnerung geblieben. Jeder Kursteilnehmer erhielt seine Marschpapiere; ich selbst fuhr schon am nächsten Morgen mit der Reichsbahn nach Bremen.
Ich sah keinen der Kameraden je wieder. Gegen Ende des Krieges erfuhr ich, was aus Lücker geworden war: Er gehörte zu den Toten, die beim Verlust von U 257 am 21. Februar 1944 im Atlantik zu beklagen waren.
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