Beide Beweggründe – das Berufen der monarchistischen Tradition eines starken Staates wie des Privateigentums und der Privatinitiative – spielten eine große Rolle in der letzten Rede, die Hitler vor einem (relativ) frei gewählten Reichstag hielt (23. März 1933). Hitler legte dar, daß eine monarchische Restauration zur Zeit kein Gegenstand der Diskussion sein könne, weil die Hauptaufgabe darin bestehe, eine unbedingte Autorität der Regierung herzustellen. Gleichzeitig versprach er, die Privatinitiative aufs stärkste zu fördern und das Privateigentum anzuerkennen. 24
Die Lehre von der Totalität des Staates befriedigte so die zahlreichen Anhänger der deutschen Reaktion: Universitätsprofessoren, Bürokraten, Reichswehroffiziere und Großindustrielle. Ebenso war sie für die westliche Welt im allgemeinen akzeptabel. Denn jede politische Theorie, in welcher der Staat die zentrale und beherrschende Rolle einnimmt und mit der Aufgabe betraut ist, das Allgemeininteresse zu wahren, steht in Einklang mit der Tradition der westlichen Zivilisation, mag diese Tradition auch noch so liberal sein. Die westliche Tradition betrachtet den Staat nicht als einen gegen die Menschenrechte gerichteten Unterdrükkungsapparat, sondern als eine Institution, die über das Interesse des Ganzen wacht und dieses Interesse gegen Übergriffe partikularer Gruppen schützt. Die Souveränität des Staates ist der Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit, Ordnung, Gesetz und Rechtsgleichheit, und die nationalsozialistische Emphase der Totalität des Staates hatte noch nicht mit dieser europäischen Tradition gebrochen. Zudem diente dieser Totalitarismus auch den praktischen Erfordernissen des Augenblicks. In den ersten Monaten des Regimes versuchte jeder Braun- und Schwarzhemd-Funktionär, so viel wie möglich Posten und Ämter zu ergattern. Die breite Masse der Parteimitglieder war bald ungehalten über den Verrat an der Revolution; ein Flügel rief sogar nach einer zweiten Revolution. Röhms Braunhemden sahen voller Neid auf die neue Macht der Reichswehr.
Die Lage war heikel, und Hitler beeilte sich, die Waffe der Totalitätslehre einzusetzen. Die Revolution mußte – was Eigentum, Beamtentum und Reichswehr betraf – in geordneten Bahnen verlaufen. § 26 des Reichswehrgesetzes und eine preußische Verordnung vom 4. Mai 1933 bestimmten, daß Parteimitglieder ihre Mitgliedschaft für die Dauer des Dienstes bei den bewaffneten Streitkräften oder der Polizei aufgeben mußten, da sie einer anderen Disziplinargewalt unterstanden. 25Am 20. November 1933 trat Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, mit einer eindringlichen Erklärung an die Öffentlichkeit, in der es hieß, daß Parteiführer kein Recht hätten, Verordnungen und Erlasse herauszugeben. 26Vor allen Dingen sollten die Parteichefs auf Orts- und Gauebene sich aus der Wirtschaft heraushalten. Dies ist der Inhalt des Rundschreibens von Dr. Frick, in dem er die hohen Beamten des Reiches, an die das Schreiben gerichtet war, ermahnte, nicht zuzulassen, daß der Parteiapparat die Autorität der Bürokratie antastet. Dr. Frick beabsichtigte keineswegs gegen die Terrorakte an Juden, das Schlagen wehrloser Gefangener in den Kasernen der Braunhemden, die Verschleppung von Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten oder die Ermordung – »auf der Flucht erschossener« – politischer Gegner einzuschreiten. Aber die Partei durfte sich nicht in Wirtschaft und Verwaltung einmischen.
3. Die Gleichschaltung des politischen Lebens
Die Totalitätstheorie war auch das Instrument zur Koordinierung des gesamten öffentlichen Handelns. Die absolute Kontrolle von oben – die berühmte Gleichschaltung jeder Tätigkeit von Reich, Ländern, Kreisen und Gemeinden – erfuhr in der Lehre vom totalen Recht und der totalen Macht des Staates ihre Rechtfertigung. Im Gegensatz zu der pluralistischen und föderalistischen Weimarer Republik konnte und wollte der neue Staat die Existenz autonomer öffentlicher Institutionen nicht dulden, und in den Jahren 1933 und 1934, die Hitler die Zeit der Machtbefestigung nannte, sorgte eine ganze Serie von Rechtsverfügungen für alle dazu erforderlichen Details. Anders als in Italien waren Machtkonzentration und Gleichschaltung in Deutschland in sehr kurzer Zeit abgeschlossen.
Die Rechtsgrundlage bildete das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das »Gesetz zur Behebung der Not vom Volk und Reich«, das von einem Reichstag beschlossen wurde, der erst knapp drei Wochen zuvor, am 5. März, gewählt worden war. Es ist auch die »vorläufige Verfassung des Reiches« genannt worden. 27Dieses Gesetz übertrug der Reichsregierung die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt, auch das Recht, von den in der Reichsverfassung vorgesehenen Bestimmungen abzuweichen und überall einzugreifen, soweit nicht die parlamentarischen Institutionen, die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche betroffen sind. Ferner legte es fest, daß die Rechte des Reichspräsidenten unberührt bleiben. Ein neues und »vereinfachtes« Gesetzgebungsverfahren wurde eingerichtet. Obwohl die gesetzgebende Gewalt des Reichstages nicht ausdrücklich abgeschafft ist, wurde sie faktisch doch hinfällig, da sie nur in Ausnahmesituationen und dann nur zu Dekorationszwecken wahrgenommen wird.
Der Reichstag, so wie er heute noch besteht, zusammengesetzt aus Funktionären der NSDAP, ist ein bloßes Dekorationsstück. Fritz Thyssen, seinerzeit selbst Mitglied jenes erlauchten Gremiums, berichtete nach seiner Flucht aus Deutschland, 28daß bei der Reichstagssitzung am 1. September 1939 (der Kriegssitzung) nur hundert Parlamentsmitglieder anwesend waren, während die übrigen Sitze einfach mit irgendwelchen Parteisekretären besetzt wurden.
Die Reichsregierung wurde zum normalen Gesetzgeber. Diese Aufhebung der Trennung von legislativen und administrativen Funktionen – eine charakteristische Entwicklung in nahezu allen modernen Staaten – bedeutet, daß die politische Macht nicht mehr unter verschiedene Gesellschaftsschichten aufgeteilt ist, und die Minderheiten nicht mehr gegen Gesetzesvorschläge opponieren können. 29Die Staatsgewalt ist nicht nur einheitlich, sondern sie ist absolut. (Einheitlich ist sie selbstverständlich auch in der liberalen Demokratie, denn Gewaltenteilung heißt nicht, daß es drei verschiedene Gewalten gibt. Genauer wäre, von getrennten und unterschiedlichen Funktionen statt von Gewalten zu sprechen.)
Das Ermächtigungsgesetz stellt eine überaus radikale Abkehr von den Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates dar, von dem System von Normen und Gewohnheiten, das die gesetzgebende Gewalt des Staates beschränkt. Ein Schreiber formulierte dies so: »Damit hat die Reichsregierung die Führergewalt in Deutschland erhalten; sie hat unter der Führung Adolf Hitlers die weitaus größte politische Macht.« 30
Die Geschichte des Ermächtigungsgesetzes straft die Behauptung der Nationalsozialisten Lügen, sie seien mit verfassungsmäßigen Mitteln zur Macht gekommen. Das Gesetz wurde zwar mit 441 gegen 94 Stimmen angenommen und bekam damit die erforderliche Zweidrittelmehrheit der anwesenden Reichstagsmitglieder (Artikel 76 der Weimarer Verfassung). Aber die Sitzung fand in einer Atmosphäre des Terrors statt. Die 81 kommunistischen Abgeordneten und zahlreiche Sozialdemokraten waren zuvor willkürlich verhaftet worden und folglich nicht anwesend (die anwesenden Sozialdemokraten stimmten gegen die Vorlage). Hätten die Zentrumsabgeordneten nicht kapituliert und die Gesetzesvorlage nicht unterstützt, dann wäre zweifellos auch gegen sie die Terrorherrschaft entfesselt worden.
Überdies sah Artikel 5 vor, daß das Ermächtigungsgesetz außer Kraft treten sollte, »wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird«. Die Umstände, die diese von Hindenburg geforderte Vorschrift begleiteten, sind bezeichnend. Die Welt hat vergessen, daß in dieser ersten Hitler-Regierung, die am 31. Januar 1933 die Macht antrat, nur drei von zwölf Kabinettsmitgliedern Nationalsozialisten waren. (Tatsächlich war diese Regierung eine Neuauflage der Harzburger Front vom Oktober 1931, die Hitler und Hugenberg mit dem Segen Schachts organisiert hatten, um eine »nationale« Opposition gegen das Kabinett Brüning zu schmieden.) 31Hindenburg bestand deshalb auf dem Artikel 5, weil er die Mehrheit seiner reaktionären Freunde in der neuen Regierung der »nationalen Konzentration« und ganz besonders drei von ihnen (Vizekanzler von Papen, Wirtschaftsminister Hugenberg und Arbeitskommissar Gerecke) schützen wollte. Mit anderen Worten, das Ermächtigungsgesetz gab der Regierung in ihrer damaligen Zusammensetzung und keiner anderen volle Gesetzgebungsgewalt.
Читать дальше