Der Grundsatz der Gewaltenteilung beschränkt das Parlament auf die Gesetzgebungsfunktion, mit anderen Worten, auf die Verabschiedung abstrakter, allgemeiner Regeln. Wieder hat sich die Praxis von der Theorie entfernt. Das Parlament ist nicht mehr ausschließlicher Gesetzgeber; es ist sogar eher eine Administration, und dazu noch eine untaugliche. Im Zeitalter des Monopolkapitalismus sind allgemeine Gesetze zu einem Mittel geworden, individuelle Entscheidungen zu verschleiern. Die Homogenität des Volkes ist so gut wie nicht vorhanden. Das pluralistische System hat an die Stelle der einen Grundbindung an die Nation eine Vielzahl von Bindungen gesetzt. Die Polykratie, d. h. die nebeneinander stehenden, unabhängigen öffentlichen Organe (Sozialversicherungsinstitutionen, Aufsichtsämter, staatseigene Wirtschaftsunternehmen usf.), die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen, hat die Einheitlichkeit der politischen Entscheidungen zerstört. Sie hat viele der lebenswichtigen Glieder vom Staatskörper abgetrennt. Das föderative Prinzip, mit seinem Schutz partikularistischer Interessen, spricht dem Gedanken des einen Volkes Hohn.
Bürgerliche Freiheiten und unveräußerliche Rechte schließlich sind die Negation der Demokratie. Rousseau hätte bereits auf diesen Punkt, zumindest implizit, hingewiesen; denn die Theorie des Gesellschaftsvertrages besage, daß der Bürger mit Abschluß des Vertrages seine Rechte veräußert. Die traditionellen persönlichen und politischen Freiheiten waren ein Produkt des Konkurrenzkapitalismus. Dieses Zeitalter ist nun vorbei, und der Kapitalismus ist in die Phase des Interventionismus, des Monopolkapitalismus und Kollektivismus eingetreten. Da Gewerbe- und Vertragsfreiheit verschwunden sind, verloren auch ihre Folgegarantien, Rede- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit gewerkschaftlicher Organisation, ihre Bedeutung. 4
Es ist ein interessantes Paradox, daß diese antidemokratische Analyse, darauf abgestellt, die Bedeutung der Grundrechte auf ein Minimum zu beschränken, sie zugleich gewaltig hervorhob, indem sie diese in Bollwerke der Verteidigung des Privateigentums gegen staatliche Eingriffe verwandelte und ihnen eine verfassungsmäßige Funktion zuschrieb, die der deutschen Tradition völlig fremd war. 5Zahllose Bücher, Pamphlete und Reden denunzierten die parlamentarischen Institutionen als ineffizient, undemokratisch und korrupt. Die bürokratische Ideologie war der unmittelbare Nutznießer. Die Rechtsprechung wurde zur obersten politischen Funktion erhoben, und trotz all der Angriffe auf die pluralistischen, polykratischen und föderativen Ursachen der Zerrüttung wurde jede Kritik am unabhängigen politischen Status der Armee peinlich vermieden. Die Grundrechte wurden als mit der demokratischen Weltanschauung unvereinbar erklärt, während zugleich den Grundrechten auf Eigentum und Gleichheit eine so umfassende und tiefe Bedeutung zugemessen wurde, wie diese sie nie zuvor besessen hatten.
Das logische Resultat dieses vorsätzlichen Manövers war der Ruf nach einem starken Staat, der in dem Wahlspruch gipfelte: »Alle Macht dem Präsidenten«. Der Präsident, so wurde unterstellt, ist eine wahrhaft demokratische Institution: Er ist vom Volk gewählt. In seinen Händen, als dem einzig wahren pouvoir neutre et intermédiaire, sollten legislative und exekutive Gewalt konzentriert sein. Die Neutralität des Präsidenten sei nicht bloß Farblosigkeit, sondern eine wahrhaft objektive Stellung über den kleinlichen Streitigkeiten der zahlreichen Interessen, öffentlichen Organe und Länder. 6
So sah die Grundhaltung aus, die sich hier offenbarte, der Dezisionismus Carl Schmitts 7, die Forderung zu handeln statt abzuwägen, zu entscheiden statt zu berechnen. Der Dezisionismus basiert auf einer eigentümlichen, doch überaus attraktiven Lehre vom Wesen der Politik, die große Ähnlichkeit mit dem revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel hat. Das Politische, so erklärte Schmitt, ist ein Freund-Feind-Verhältnis. Der Feind ist letzten Endes jener, der physisch vernichtet werden muß. In diesem Sinne kann jede menschliche Beziehung eine politische werden, denn jeder Gegner kann zu einem physisch zu vernichtenden Feind werden. Das Gebot des Neuen Testaments, daß man sogar seine Feinde lieben soll, bezieht sich nur auf den privaten Feind, inimicus, nicht auf den öffentlichen Feind, hostis . 8Dies ist eine Doktrin, die sich gegen jeden Aspekt und jeden Akt liberaler Demokratie und gegen unseren gesamten traditionellen Begriff der Herrschaft des Gesetzes wendet.
Dagegen gerichtete Theorien waren entweder ohne Einfluß oder aber spielten der antidemokratischen These in die Hände. Die Kommunisten zum Beispiel brandmarkten die Verfassung als Verschleierung der kapitalistischen Ausbeutung und als politischen Überbau einer monopolkapitalistischen Wirtschaft. In Wirklichkeit verschleierte die Weimarer Verfassung gar nichts. Ihr Kompromißcharakter, die Abreden der Interessen, der unabhängige Status der Reichswehrbürokratie, die offen politische Rolle der Justiz waren sämtlich klar erkennbar. Verfassungstheorie und -praxis enthüllten die Schwäche der demokratischen Kräfte und die Stärke ihrer Gegner. Ganz ebenso offenbarten sie, daß die Weimarer Verfassung ihre Existenz weit mehr der Duldung ihrer Feinde als der Stärke ihrer Anhänger verdankte. Das Fehlen jeglicher allgemein anerkannter Verfassungslehre, selbst wenn sie bloßer Schein und eine reine Fiktion gewesen wäre, sowie der konsequent öffentliche Charakter der fundamentalen Antagonismen waren gerade die Faktoren, die den Übergangsstatus der Verfassung bestätigten und die Bildung einer dauerhaften Loyalität verhinderten.
Der sozialistischen Verfassungstheorie mißlang es, eine spezifisch sozialistische Lehre zu entwickeln. Genau wie Carl Schmitt verurteilte sie die Weimarer Verfassung wegen des Fehlens einer Entscheidung. 9Sie gestand der Verfassung nicht einmal eine Kompromißqualität zu, sondern meinte, daß die unvereinbaren Interessen und Positionen ohne jede Integration nebeneinander stünden. Jede Verfassung, an geschichtlichen Wendepunkten erlassen, so urteilten die Sozialisten, muß ein bestimmtes Aktionsprogramm verkünden und eine neue Gesellschaftsordnung organisieren. Da die Weimarer Verfassung keine eigenen Ziele hatte, ließ sie die verschiedensten Wertsysteme zu.
Ihre vernichtende Kritik zwang die Sozialisten, das Wertsystem der Weimarer Demokratie neu zu formulieren. So entwickelten sie die Lehre des sozialen Rechtsstaates, der das Erbe der bürgerlichen Rechte, die rechtliche und politische Gleichheit, mit den Erfordernissen des Kollektivismus verband. 10Verfassungsbestimmungen zur Sozialisierung der Industrie und der Anerkennung von Gewerkschaften hervorhebend, forderten sie die Einführung einer Wirtschaftsverfassung, die eine gleichberechtigte Repräsentation der Arbeit festsetzen sollte. Der »soziale Rechtsstaat« war so die Rationalisierung des Verlangens der »Arbeitnehmer« nach angemessener Beteiligung am politischen Leben der Nation. Als politische Theorie besaß er zugestandenermaßen einen Übergangscharakter (zusammen mit der entsprechenden Lehre von der Wirtschaftsdemokratie), denn der soziale Rechtsstaat wurde lediglich als der erste Schritt auf dem Wege zu einer voll sozialisierten Gesellschaft betrachtet. Und seine Wirkung war genau so gering wie die übrige Politik von Sozialdemokratie und Gewerkschaften.
Ein weiterer Gegner des Dezisionismus war die sogenannte Österreichische Schule: die »reine Rechtslehre«. Sie sah Staat und Recht als identische Sphären an. Es gibt nur ein Recht, das Recht des Staates. Da jedes politische Phänomen in Rechtsbegriffen erklärt werden müsse, ist jede politische Form ein Rechtsstaat, ein Staat, der auf Recht gegründet ist. Nicht einmal die absoluteste Diktatur könne sich der Einordnung in diese Kategorie entziehen, weil die Macht des Diktators nur als eine explizit oder implizit von einem Grundgesetz abgeleitete Macht denkbar sei, einem übergeordneten Gesetz, welches das Rechtssystem bestimmt. Die Rechtsordnung ist eine Hierarchie, ein Zurechnungssystem, das von der übergeordneten Norm an der Spitze zum individuellen Vertrag und besonderen Verwaltungsakt hinunter verläuft. Folglich gebe es keine kategoriale Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht, zwischen natürlichen und juristischen Personen. 11
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