Warum?
In einem verarmten, doch hochindustrialisierten Land konnte der Pluralismus nur unter den folgenden – unterschiedlichen – Bedingungen funktionieren: Erstens ließ sich Deutschland mit ausländischer Hilfe wiederaufbauen, indem es seine Märkte auf friedlichem Wege, dem hohen Stand seiner industriellen Kapazität entsprechend, ausdehnte. Die Außenpolitik der Weimarer Republik ging in diese Richtung. Mit ihrem Beitritt zum Konzert der westeuropäischen Mächte hoffte die Weimarer Regierung, Konzessionen zu erhalten. Der Versuch scheiterte. Er wurde weder von der deutschen Industrie und den Großgrundbesitzern, noch von den Westmächten unterstützt. Im Jahr 1932 befand sich Deutschland in einer katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise.
Zweitens konnte das System auch dann funktionieren, wenn die herrschenden Gruppen freiwillig oder unter staatlichem Zwang Zugeständnisse machten. Das hätte für die Masse der deutschen Arbeiter zu einem besseren Leben und den Mittelstand zur Sicherheit geführt – auf Kosten der Profite und der Macht des Großkapitals. Die deutsche Industrie stemmte sich jedoch mit Entschiedenheit dagegen, und der Staat stellte sich mehr und mehr auf ihre Seite.
Die dritte Möglichkeit war die Umwandlung in einen sozialistischen Staat, und das war 1932 vollkommen irreal geworden, da die Sozialdemokratische Partei nur noch dem Namen nach sozialistisch war.
Die Krise von 1932 zeigte, daß politische Demokratie allein, ohne eine stärkere Ausnutzung der dem deutschen Industriesystem innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ohne die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ohne eine Verbesserung des Lebensstandards, nur eine leere Hülse blieb.
Die vierte Möglichkeit war die Rückkehr zur imperialistischen Expansion. Imperialistische Wagnisse im Rahmen der traditionellen demokratischen Form konnten jedoch nicht organisiert werden, denn die Opposition dagegen wäre zu stark gewesen. Sie konnten auch nicht die Form einer Restauration der Monarchie annehmen. Eine Industriegesellschaft, die eine demokratische Phase durchschritten hat, kann die Massen nicht aus ihren Erwägungen ausklammern. Daher nahm der neue Expansionismus die Form des Nationalsozialismus an, einer totalitären Diktatur, der es gelungen ist, einen Teil ihrer Opfer in Anhänger und das ganze Land in ein unter eiserner Disziplin gehaltenes bewaffnetes Lager zu verwandeln.
Erster Teil
Die politische Struktur des Nationalsozialismus
Einführende Bemerkungen über den Wert der nationalsozialistischen Ideologie
Die Ideologie des Nationalsozialismus bietet den besten Schlüssel zu seinen Endzielen. Sie zu studieren, ist weder sehr erfreulich noch einfach. Bei der Lektüre von Plato und Aristoteles, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, Hobbes und Rousseau, Kant und Hegel fasziniert uns die innere Schönheit ihres Denkens, ihre Konsistenz und Eleganz so sehr wie die Art und Weise, in der ihre Lehren mit den sozio-politischen Gegebenheiten in Einklang stehen. Philosophische und soziologische Analysen greifen bei ihnen ineinander. Die nationalsozialistische Ideologie ist bar jeglicher inneren Schönheit. Der Stil ihrer lebenden Autoren ist abscheulich, die Konstruktionen sind wirr, eine Konsistenz ist nicht vorhanden. Jede Äußerung entspringt einer unmittelbaren Situation und wird verworfen, sobald die Situation sich ändert.
Der unmittelbare und opportunistische Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Doktrin und der Realität macht ein detailliertes Studium der Ideologie zwingend notwendig. Normalerweise müssen wir die Vorstellung, die Soziologie könne die Richtigkeit oder Falschheit eines Denksystems bestimmen, indem sie seine soziale Herkunft untersucht oder es einer bestimmten Klasse der Gesellschaft zuordnet, ablehnen. Aber im Falle der nationalsozialistischen Ideologie müssen wir uns auf soziologische Methoden stützen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu ermitteln; am allerwenigsten geht sie aus den expliziten Äußerungen der »NS-Führer« hervor.
Die Weltherrschaft ist vielleicht nicht das bewußte Ziel des Nationalsozialismus, doch werden ökonomische und soziale Antagonismen ihn dazu treiben, seinen Machtbereich weit über die Grenzen Europas hinaus auszudehnen. Die doktrinären Elemente der Ideologie lassen keinen anderen Schluß zu, trotz allen Leugnens, ja sogar trotz der Tatsache, daß Hitler selbst eine weithin verbreitete Rede des Landwirtschaftsministers Darré, welche die Weltherrschaft als das Ziel des Nationalsozialismus verkündete, als eine »dumme und infame Lüge« denunzierte (siehe seine Neujahrsansprache an das deutsche Volk nach der Wiedergabe der Frankfurter Zeitung vom 1. Januar 1941). Um diese Behauptung zu beweisen, müssen wir jedes einzelne Element der Doktrin für sich analysieren.
Hinter einer Unmenge irrelevanten Kauderwelsches, von Banalitäten, Verdrehungen und Halbwahrheiten können wir das relevante und entscheidende zentrale Thema der Ideologie erkennen: daß alle traditionellen Lehren und Werte verworfen werden müssen, ob sie aus dem französischen Rationalismus oder dem deutschen Idealismus, dem englischen Empirismus oder dem amerikanischen Pragmatismus stammen, ob sie liberale oder absolutistische, demokratische oder sozialistische sind. 1Sie alle stehen dem fundamentalen Ziel des Nationalsozialismus feindlich gegenüber: die Diskrepanz zwischen den potentiellen und den bisherigen und gegenwärtig noch bestehenden Möglichkeiten des deutschen Industrieapparates durch einen imperialistischen Krieg zu lösen.
Bei den vom Nationalsozialismus negierten Werten und Begriffen handelt es sich um die philosophischen, juristischen, soziologischen und ökonomischen Kategorien, mit denen wir tagtäglich umgehen und die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Viele von ihnen, wie z. B. der Begriff der Staatssouveränität, der oft für reaktionär gehalten wird, enthüllen bei eingehender Analyse ihren progressiven Charakter und demonstrieren dadurch ihre Unvereinbarkeit mit dem Nationalsozialismus. Wir werden in unserer Untersuchung der nationalsozialistischen Ideologie jedes einzelne Element für sich aufgreifen und seine aktuelle Funktion innerhalb der politischen, soziologischen, juristischen und ökonomischen Struktur des Regimes aufzeigen. Die hierbei entwickelten Kategorien entsprechen nicht unbedingt den entscheidenden Wachstumsphasen der nationalsozialistischen Ideologie, wenngleich einige davon mit ihnen übereinstimmen.
In ihrer äußeren Form, als Propaganda, unterscheidet sich die totalitäre Ideologie von demokratischen Ideologien nicht nur, weil sie als einzige und ausschließliche auftritt, sondern weil sie mit Terror verschmolzen ist. Im demokratischen System tritt eine Ideologie als eine von vielen auf. Tatsächlich impliziert der Begriff »Ideologie« selbst ein Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen Denkstrukturen innerhalb der Gesellschaft. Die nationalsozialistische Doktrin kann nur insofern als »Ideologie« bezeichnet werden, als sie auf dem Weltmarkt der Ideen gewissermaßen mit anderen Ideologien konkurriert, obwohl sie sich auf dem inneren Markt natürlich als einzig und souverän darstellt. Die demokratische Ideologie ist dann erfolgreich, wenn sie überzeugend oder anziehend ist; die NS-Ideologie überzeugt durch die Anwendung von Terror. Gewiß wachsen auch in Demokratien denjenigen materielle Vorteile zu, die die herrschende Ideologie akzeptieren und nicht bei Gelegenheit Gewalt erdulden müssen; doch gestattet das demokratische System zumindest die Kritik dieser Allianz und bietet konkurrierenden Elementen und Kräften eine Chance.
Der Nationalsozialismus hat keine Theorie der Gesellschaft in unserem Sinne, keine konsistente Vorstellung ihrer Funktionsweise, Struktur und Entwicklung. Er will bestimmte Ziele durchsetzen und paßt seine ideologischen Äußerungen einer Reihe von ständig wechselnden Schritten an. Dieses Fehlen einer grundlegenden Theorie ist ein Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus. Die nationalsozialistische Ideologie verändert sich ständig. Sie besitzt zwar gewisse magische Überzeugungen – Führerkult, Oberherrschaft der Herrenrasse – aber die Ideologie ist nicht in einer Reihe von begrifflich bestimmten Lehrsätzen festgelegt.
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