Darüber hinaus gestatten uns die Veränderungen seiner Ideologie, zu bestimmen, ob es dem Nationalsozialismus gelungen ist, die Sympathie des deutschen Volkes zu gewinnen. Denn wo ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erklärten Ideologie und der politischen Realität besteht, müssen Veränderungen der formulierten Doktrin aus der Tatsache hervorgehen, daß die frühere Doktrin auf bestimmte Schichten der deutschen Bevölkerung keine Anziehungskraft ausgeübt hat.
I. Der totalitäre Staat
1. Die Techniken antidemokratischer Verfassungstheorie
Das Scheitern des Kapp-Putsches im Jahr 1920 und des Hitler-Putsches 1923 lehrte die Nationalsozialisten, daß der coup d’état in unserer Welt keine geeignete Technik zur Ergreifung der politischen Macht darstellt. Curzio Malaparte schrieb ein in breiten Kreisen gelesenes Buch zur Rechtfertigung des Staatsstreiches. 1Er meinte, daß der Weg zu einer erfolgreichen Revolution im Griff einer kleinen Gruppe von Stoßtrupps und hochgeschulten Verschwörern nach den Schlüsselpositionen des Staatsapparates besteht. Zum Beweis führte er die Russische Revolution von 1917, den Kapp-Putsch, die Machtergreifung der Faschisten in Italien, den Streich von Pilsudski in Polen und Primo de Rivera in Spanien an. Die Wahl seiner Beispiele hätte kaum schlechter sein können. Der Erfolg der Bolschewistischen Revolution kann zum Teil Praktiken nach der Art Malapartes zugeschrieben werden, aber noch weit mehr der Tatsache, daß die Kerenskij-Regierung schwach war und sich die russische Gesellschaft in voller Desintegration befand. Der Kapp-Putsch war ein Fehlschlag, Mussolinis »Marsch auf Rom« ein Mythos. Ähnlich steht es mit der gleichermaßen untauglichen militärischen Theorie, eine hochtrainierte, mit den modernsten Waffen ausgerüstete Armee sei einer großen Massenarmee notwendig überlegen. Die Siege der Deutschen im gegenwärtigen Krieg waren das Ergebnis der gewaltigen militärischen Übermacht einer Massenarmee, vereint mit hochmechanisierten Stoßtrupp-Divisionen – und ebenso der moralischen Zerrüttung ihrer Gegner.
Leider irrte Malaparte, als er 1932 voraussagte, daß Hitler, den er als »Möchtegern-Führer« apostrophierte, als »bloße Mussolini-Karikatur«, niemals an die Macht käme, weil er sich ausschließlich auf opportunistische parlamentarische Methoden verlasse. Natürlich hatten die Nationalsozialisten recht und Malaparte unrecht. In seiner Gedenkrede vom 8. November 1935 gab Hitler selbst zu, daß sein früher Putsch ein Fehler war: »Das Schicksal aber hat es dann gut gemeint mit uns. Es hat eine Aktion nicht gelingen lassen, die, wenn sie gelungen wäre, am Ende an der inneren Unreife der Bewegung und ihrer damaligen mangelhaften organisatorischen und geistigen Grundlagen hätte scheitern müssen. Wir wissen das heute! Damals haben wir nur männlich und tapfer gehandelt. Die Vorsehung aber hat weise gehandelt.«
Nach dem Münchener Fiasko ist die Nationalsozialistische Partei eine »legale« geworden. Sie gelobte feierlich, nicht zum Hochverrat oder einem revolutionären Umsturz der Verfassung aufzurufen. Als Zeuge bei einem Prozeß gegen des Hochverrats angeklagte nationalsozialistische Reichswehroffiziere schwor Hitler am 25. September 1930 seinen berühmten »Reinheitseid«, den Legalitätseid. Die Sturmtruppen, die SA, wurden als harmlose Sport- und Parade-Verbände ausgegeben. Kaum eine politische Partei bestand lautstärker als die Nationalsozialisten auf der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Gleichheit.
Jedes Instrument der parlamentarischen Demokratie, jede liberale Institution, Gesetzesbestimmung, soziale und politische Regel wurde zur Waffe gegen Liberalismus und Demokratie; jede Gelegenheit wurde wahrgenommen, die Ineffizienz der Weimarer Republik mit Hohn zu überschütten. Die folgenden Äußerungen sind eine bescheidene Auswahl von Anklagen wider Liberalismus und Demokratie, die allein den Schriften nationalsozialistischer Professoren entnommen sind (die Schimpfkanonaden der Parteiredner können der Phantasie überlassen bleiben):
Der liberale Staat ist »neutral und negativ«, eine bloße Maschinerie; er ist, um es mit Lassalle zu sagen, ein »Nachtwächterstaat«. Daher ist er »ohne Substanz«, unfähig, eine Entscheidung zu fällen oder zu bestimmen, was gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist. Die Idee der Freiheit ist zur Anarchie verkommen. Zersetzung und Materialismus greifen um sich. Und das marxistische Ideal, nur eine Spielart des Liberalismus, ist nicht besser.
Demokratie ist die Herrschaft der »unorganisierten Masse«, einer Summe von Robinson Crusoes, aber nicht von Menschen. Ihr Prinzip ist das »Nasenzählen«, und ihre Parlamente, von privaten Gruppen beherrscht, sind Arenen brutaler Machtkämpfe. Das Recht dient nur privaten Interessen, der Richter ist nichts anderes als eine Maschine. Liberalismus und Recht schließen in Wirklichkeit einander aus, wenngleich sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit vorübergehend ein Bündnis eingegangen sind. Mit einem Wort, Liberalismus und Demokratie sind Ungeheuer, man könnte sagen: »negative« Leviathane, so stark, daß sie imstande waren, die Institution des germanischen Rassenerbes zu korrumpieren.
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß der Nationalsozialismus während der 20er und frühen 30er Jahre einfach mit dem Ziel angetreten ist, die Wertlosigkeit der Demokratie zu beweisen oder einen Ersatz anzubieten: Monarchie oder Diktatur oder sonst irgend etwas. Ganz im Gegenteil brüstete er sich, der Retter der Demokratie zu sein. Carl Schmitt, der Ideologe dieses Schwindels, entwickelte dies folgendermaßen:
Die Weimarer Republik beruht auf zwei Prinzipien, dem demokratischen und dem liberalen, rechtsstaatlichen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Demokratie bezieht sich auf den Grundsatz der Identität von Regierenden und Regierten. Gleichheit, nicht Freiheit ist ihre Substanz. Gleichheit kann es nur innerhalb einer vorhandenen Gemeinschaft geben, und die Basis für beide, Gemeinschaft und Gleichheit, kann unterschiedlich sein. Wir können Gleichheit von der physischen oder moralischen Homogenität der Gemeinschaft ableiten, wie die Tugend, die Montesquieu als das Prinzip einer Republik bezeichnete. Oder Gleichheit kann von einer religiösen Übereinstimmung herrühren, wie sie der demokratischen Ideologie der Levellers in der puritanischen Revolution zugrunde lag. Seit der Französischen Revolution ist nationale Homogenität die Basis. Rousseau, der diesen Begriff prägte und darauf das einzige wahrhaft demokratische System errichtete, hat unter nationaler Homogenität die Einstimmigkeit verstanden. 2Sein Begriff des allgemeinen Willens läßt daher keine politischen Parteien zu, da Parteien, wie schon ihr Name zeigt, nur den Willen eines Teils zum Ausdruck bringen. Ein wahrhaft demokratisches System wird also die völlige Identität von Regierenden und Regierten ausdrücken. 3
Parlamentarismus ist nicht identisch mit Demokratie, sondern lediglich eine ihrer historischen Formen. Die Hauptprinzipien des Parlamentarismus sind öffentliche Diskussion, Teilung der Gewalten und Allgemeinheit des Gesetzes. Die öffentliche Debatte verlangt, daß die Instanzen politischer Macht sich der Diskussion als eines Mittels der Wahrheitsfindung aussetzen. Die öffentliche Debatte ermöglicht der Bürgerschaft die Überwachung und Kontrolle ihrer Vertreter. Aber, sagt Schmitt, die Praxis stimmt nicht mehr mit der Theorie überein. Die parlamentarische Debatte ist heute nichts weiter als ein Mittel, die zuvor außerhalb gefällten Entscheidungen zu registrieren. Jeder Abgeordnete ist durch starre Parteidisziplin gebunden. Er würde nicht wagen, sich von einem Gegner umstimmen zu lassen. Die parlamentarische Debatte ist ein Betrug. Die Reden werden nur für das Protokoll gehalten. Da die wichtigsten Entscheidungen in geheim tagenden Ausschüssen oder in informellen Verhandlungen zwischen den herrschenden Gruppen fallen, ist die Öffentlichkeit der Debatte selbst leerer Schein.
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