»Es gibt andere Jobs in der Stadt. Die maquiladoras –«
»Sind schon voll mit Mädchen vom Land, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen. Hier ist es nicht wie in Juárez, wo es immer irgendwas gibt. Ich habe einen Job gefunden und verdiene gutes Geld.«
Sie hatte recht, Ciudad Juárez war zwar viel gefährlicher, aber auch größer und geschäftiger und bot mehr Möglichkeiten. Nuevo Laredo würde nie so werden, es würde immer ein Durchgangsort bleiben, den der Grenzhandel am Leben hielt, dem er aber keinen Wohlstand brachte.
Gonzalo sah sich in dem heruntergekommenen Zimmer um. Die Wände waren von Wasserflecken verfärbt, vermutlich waren sie das letzte Mal vor Iris’ Geburt gestrichen worden, die Farbe war abgeplatzt und heruntergerieselt. »Was ist in Ihren Augen gutes Geld?«, fragte er.
»Sechshundert Pesos.«
»Pro Kunde?«
»Natürlich.«
»Wie viele Kunden haben Sie pro Nacht?«
»Ich zähle nicht.« Iris wandte den Blick ab.
Gonzalo ließ nicht locker. »Wie viele?«
»Keine Ahnung. Zehn. Fünfzehn.«
»In diesem Loch«, sagte Gonzalo. »Was zahlen Sie pro Nacht dafür? Dreitausend Pesos? Viertausend? Wie viel bleibt Ihnen dann?«
»Hauen Sie ab!«, rief Iris. »Ich muss mich nicht rechtfertigen.«
»Hat sich schon jemand gemeldet, der auf Sie ›aufpassen‹ will?«, fragte Gonzalo. »Das ist nämlich nur eine Frage der Zeit. Keine Frau arbeitet hier lange allein. Irgendwann taucht ein Typ auf und sagt, wenn er fünfzig Prozent abbekommt, kümmert er sich um die bösen Kunden. Und wenn Sie ablehnen, erhöht sich der Anteil, außerdem wird er Sie schlagen. Freuen Sie sich darauf?«
Sie hatte den Blick gesenkt, und Gonzalo kannte die Antwort. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie tonlos.
»Es ist also bereits passiert«, sagte er. »Und es wird nicht aufhören. Jede Nacht das Gleiche, bis Sie nicht mehr jung genug sind, nicht mehr gesund genug … und dann wird man Sie wegjagen und Sie dahin zurückschicken, wo Sie hergekommen sind. Pleite, süchtig oder in welchem Zustand auch immer.«
»Bitte gehen Sie«, sagte Iris.
»Ich gehe, wenn Sie Ihre Sachen gepackt haben und mit mir kommen.«
»Was ich mache, ist nicht illegal!«
»Nein. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht falsch ist.«
Iris hob den Kopf, blickte ihn aus feuchten Augen an und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Wollen Sie die ganzen anderen Mädchen etwa auch retten?«
»Nein.«
»Würden Sie es tun?«
»Nein. Ich bin hier, weil Sie eine Familie haben, die Sie liebt. Und weil es noch nicht zu spät ist, um es wiedergutzumachen. Es gibt Dinge, die man nie wiedergutmachen kann.«
Sie starrten einander an. Eine Träne rollte über Iris’ Wange, gefolgt von weiteren, bis sie Gonzalos Blick nicht länger ertrug und in heftiges Schluchzen ausbrach. Gonzalo biss sich auf die Zunge.
Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: »Ich besitze nicht viel.«
»Was Sie haben, reicht. Ich bin sicher, dass es Ihrem Vater nichts ausmacht.«
»Warten Sie draußen auf mich?«, fragte Iris.
»Natürlich.« Gonzalo verließ das stinkende Zimmer und ging die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Am Samstagmorgen zog sich Jack nicht gleich an, sondern machte sich in Schlafshorts und T-Shirt in der Küche einen Kaffee, setzte sich damit in seinen Sessel und blätterte ein paar der Promimagazine durch, die Lidia so mochte. Er erkannte weder die Gesichter noch die Namen, aber eine menschelnde Story über eine Familie, die durch eine Spendensammlung in der Nachbarschaft vor der Zwangsvollstreckung gerettet worden war, hielt sein Interesse eine Zeit lang gefangen.
Sein eigenes Haus war noch nicht abbezahlt, aber die Hypotheken überschaubar, und er kam den Zahlungen nach. Anfallende Reparaturen erledigte er selbst. Manchmal holte er die Mädchen dazu. Eines Tages würden sie sich selber um solche Dinge kümmern müssen, und er wollte nicht, dass sie dann von anderen abhängig waren. Seine Mädchen wussten sich zu helfen.
Als er hörte, dass sie wach wurden, ging er in die Küche und machte Frühstück. Samstags gönnten sie sich Pfannkuchen und Rührei mit Speck, dazu Milch und Orangensaft. Lidia und Marina kamen in Schlafanzügen an den Tisch, wie kleine Kinder.
»Heute besuchen wir Onkel Bernardo«, sagte Jack.
»Ist das heute?«, fragte Marina. »Lidia und ich wollten schwimmen gehen.«
»Nein, das ist heute, also macht euch fertig, in einer Stunde fahren wir. Macht euch hübsch für eure Cousins, ja?«
Jack zog seine beste Jeans und ein Arbeitshemd ohne Löcher an, dazu die guten Stiefel, nicht die abgewetzten Stahlkappenschuhe, die er zur Arbeit trug. Die Mädchen erschienen sauber, gekämmt und in helle Farben gekleidet. Sie zogen sich nicht mehr an wie früher zu Ostern, aber im Geiste sah Jack sie noch immer so: in Rüschenkleidern und Schnallenschuhen.
»Okay, los geht’s.«
Der kühle Morgen verwandelte sich bereits in einen heißen Vormittag. Jack stellte die Klimaanlage im Truck an. Früher hatten beide Mädchen hinten gesessen, als wäre er ihr Chauffeur, inzwischen saß Marina vorne neben ihm. Lichtreflektionen blitzten an ihrer Sonnenbrille auf und tanzten in Jacks Augenwinkeln.
Sie fuhren zur Laredo International Bridge und reihten sich in die kurze Schlange der Wagen ein, die die Brücke in südliche Richtung überqueren wollten. In der Gegenrichtung, von Mexiko in die USA, füllten die Wartenden vier Fahrspuren.
Schon seit Generationen fuhr man nach Nuevo Laredo, wenn man billig einkaufen oder Ablenkung und ein bisschen Spaß haben wollte. Jack erinnerte sich an viele Karnevalsfeiern und Konzerte auf den Plätzen der Stadt. Auf einer Cinco de Mayo Fiesta hatte er zum ersten Mal auf einem Pferd gesessen. Für ein paar Centavos hatte ihn ein alter Mann auf das schunkelnde Tier gesetzt und ihn in einem großen Kreis durch den Korral geführt. Jack hatte sich für einen Cowboy und den Klepper für einen Hengst gehalten.
Jetzt war alles anders. Früher war der Fußgängerübergang samstags voller Touristen gewesen, heute waren nur wenige zu sehen, und die schienen die Überquerung eher widerwillig anzutreten. Die Kennzeichen der Wagen vor Jack stammten fast alle aus Mexiko und dem Bundesstaat Tamaulipas. So war es immer.
Zuerst wurden die Autos auf der amerikanischen Seite angehalten. Uniformierte Grenzschützer patrouillierten zwischen den Fahrzeugen hin und her, führten Suchhunde an den Fahrbahnen entlang, redeten mit den Fahrern. Ein dunkelhäutiger Latino winkte Jack vorwärts und hob dann die Hand. Jack hielt an und ließ das Fenster herunter. Warme Luft drang herein.
»Guten Morgen, Sir«, sagte der Grenzbeamte. Auf seinem Namensschild stand GALLEGO. »Sie wollen nach Mexiko?«
»Ja.«
»Was ist der Anlass Ihrer Reise?«
»Wir besuchen Verwandte.«
»Wer sind die Mädchen, die bei Ihnen sind?«
»Meine Stieftöchter.«
»Haben Sie Pässe oder andere Ausweispapiere bei sich?«
»Ja, wir haben alle Pässe.«
»Darf ich die bitte sehen?«
Jack reichte sie ihm. Im Seitenspiegel sah er, dass eine Grenzbeamtin einen Schäferhund am Truck entlangführte. Der Hund schnüffelte, schlug aber nicht an.
Ihr Kollege Gallego inspizierte die Pässe und gab sie Jack zurück. »Haben Sie irgendwas dabei, von dem wir wissen sollten? Waffen, illegale Drogen?«
»Nein.«
»Tragen Sie mehr als zehntausend Dollar in bar bei sich?«
»Nein, Sir.«
Jack sah dem Beamten ins Gesicht und erblickte in dessen undurchdringlich schwarzer Sonnenbrille sein eigenes dunkles Spiegelbild. Gallego nickte. »Okay. Schönen Tag noch.«
Jack kurbelte das Fenster hoch und fuhr weiter. Vor ihnen hatte sich eine Lücke aufgetan, sie fuhren über die Brücke bis zu einer aufgemalten gelben Linie, die die Grenze markierte. Auf der anderen Seite saßen mexikanische Zollbeamte in kleinen Häuschen und sammelten die Mautgebühr von drei Dollar ein. Auf dem Rückweg würde Jack ein zweites Mal bezahlen.
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