Der Papyrus war dick, was vermutlich erklärte, warum er so wenig Schaden erlitten hatte. Sie nahm an, dass derjenige, der ihn gefertigt hatte, ein Experte gewesen war. Die Ränder waren ausgefranst und wiesen einige kleine Risse auf, aber ansonsten war die Schriftrolle intakt, was die Interpretation der ausführlichen Handschrift vereinfachen würde.
Sarah begutachtete die in schwarzer Tinte geschriebenen Schriftzeichen. »Hieratisch. So gut wie jedes Wort ist lesbar. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«
»Das ist merkwürdig«, sagte Daniel. »Hieratisch wurde fast ausschließlich für heilige Texte in Ägypten verwendet. Was hat Derartiges hier zu suchen?«
Sarah erinnerte sich daran, wie nahe das Kistchen an den Fingerknochen gelegen hatte. »Was immer es ist, jemand hielt es fest, als er starb. Das ist ziemlich vielsagend, findest du nicht?«
»Richtig. Ich bin gespannt, wie der 14C aussieht. Es gibt ein Labor in Arizona, das Papyri durch AMS datieren kann. Wir brauchen nur eine winzige Probe.«
Obwohl sie noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, davon Gebrauch zu machen, wusste sie alles über die Beschleuniger-Massenspektrometrie, welche die University of Arizona verwendete. In dieser Einrichtung waren auch die Schriftrollen vom Toten Meer und andere biblische Texte durch die Zählung von 14C-Atomen – anstelle der Messung ihres Zerfalls – datiert worden. Das Verfahren war zu einem der bedeutendsten Hilfsmittel der Archäologie geworden.
Sie richtete ihren Blick auf die hieratischen Zeichen. Die Schrift war so fließend und elegant, dass sie annahm, sie war von einem äußerst erfahrenen Schreiber verfasst worden – möglicherweise jemandem an einem königlichen Hof oder aus der Priesterschaft. »Was ist mit der Übersetzung des Textes? Irgendwelche Ideen?«
»Ich werde ihn der besten Linguistin der König-Saud schicken, die Expertin in antiken Sprachen ist. Sie ist gut und sie ist schnell. Ich wette, sie kann das in zwei Monaten erledigen.«
Angesichts des möglichen Ausmaßes des Fundes erschienen zwei Monate wie eine Ewigkeit. Aber so war die Realität eines Archäologen nun einmal: Die ultimative Übung in Geduld stellte das wahre Übel des Vorgangs dar.
Geduld allerdings war nie eine von Sarahs Stärken gewesen. Sie hatte einen eigenen Plan.
Mein Sohn,
Die Dämmerung des Lebens bricht über mir herein.
Ich wandere barfuß durch die Wüste, auf der Suche nach meiner Liebsten.
Mit Besitztümern und Weisheit und Ehefrauen war ich reichlich gesegnet,
Doch nun, da meine Jugend schwindet und meine Kräfte mich verlassen,
Suche ich Trost an ihrer Brust.
Was nutzt ein Wissen, dessen einziger Bewahrer du selbst nur bist?
Was nutzt ein göttliches Geheimnis, das ins Grab du tragen musst?
Höre mich an, mein Sohn, und werde dessen würdig, was ich dir gewähre,
Denn es wird erblühen und Früchte tragen für alle Zeit und immerdar.
Der Obstgarten trägt Feigen im Überfluss, die Reben sind von Trauben schwer.
Wenn das Gesicht meiner Liebsten sich aus den Schatten löst,
Werden alle Geheimnisse gelüftet.
Ihre Schönheit erhellt den Pfad und die schwarzen Steine,
Und ich, zu machtlos, um zu widerstehen, folge ihr.
Welche Gewalt besitzt du über mich, oh holde Nymphe?
Und sie saget, All was verborgen, will ich dir zeigen,
Mit all was dich hungert, will ich dich sättigen,
Doch nur, wenn du treu mir bist.
Folge mir nun zu den Wällen unter dem Blick des Berges,
Und habe teil an meiner Liebe, denn wenn der Hahn kräht, so bin ich fort,
Doch du wirst haben, all was du begehrst.
Unsere Liebe ist ein vollkommner Ring, aus weltlicher Substanz geschmiedet,
Doch von himmlischer Gnade geweiht.
Sein Geheimnis offenbart sich, und siehe! die Verzückung im Himmel.
Deine Schatztruhe reiche mir, und ich reiche dir den Schlüssel, der sie aufsperrt.
Unter dem dunkelsten Schleier der Nacht erscheint die Verführerin.
Sie duftet nach Balsam und feinen Gewürzen, und ihre Finger sind goldbestäubt.
Sterbliche Männer sind wehrlos ob ihrer Schönheit
Und werden von ihr angezogen wie Nachtfalter vom Feuer.
Hütet euch, Brüder, denn sie wird euch fangen und euch ihrer Armee aus Bestien zum Fraß
vorwerfen!
Ihre Löwen werden ihre Klauen ausfahren und an eurem Fleisch reißen.
Ihre Ochsen werden euch durchbohren und ihre Adler werden euch mit ihren Schreien betäuben.
Ihre Dämonen werden euch mit ihren gespaltenen Zungen niederstechen,
Und ihre Schlangen werden sich um eure Füße winden und euch lähmen.
Nur der, der reinen Herzens ist und sanfter Natur,
Kann ihre Bestien zähmen und die Frucht ihres Leibes besitzen.
Doch bist du der Auserwählte,
So wird sie dich mit einem Schatz belohnen, der seinesgleichen sucht,
geschmiedet aus Engelsflüstern und von Königen in alle Ewigkeit bewacht.
Dies, mein Sohn, ist deines Vaters Geschenk an dich.
Öffne deine Hand und empfange es mit dankbarem Herzen.
Öffne deinen Verstand, und du sollst seinen Wert erkennen.
Suche stets das Göttliche inmitten des Irdischen
Und folge der Führung des hellen Sterns,
Dessen fünf Lichtstrahlen zur einen himmlischen Wahrheit deuten,
Die dich durch Wirren geleiten und dich in deiner dunkelsten Stunde erlösen wird,
So wie auch deinen Vater und dessen Vater zuvor.
Vom Gewicht der Worte aufgewühlt, deren Bedeutung sie noch nicht vollständig begreifen konnte, las Sarah die übersetzten Passagen wieder und wieder. Sie verschränkte die Arme und sank in den schwarzen Ledersessel mit Knopfpolsterung, der so tief und hochlehnig wie ein Thron war.
Mit seinem langen, glänzenden Walnussholztisch, um den vierundzwanzig dieser Ledersessel aufgestellt waren, sah der Konferenzraum der König-Saud-Universität eher wie ein Firmensitzungssaal aus. Die Wände waren grau gestrichen und frei von jeglicher Kunst – mit Ausnahme eines Porträts des Königs –, was dem Raum trotz der Fülle des Mobiliars eine klinische Atmosphäre bescherte.
Sie sah Daniel über den Konferenztisch hinweg an. Er hatte sein markantes Kinn, das mit einem Zweitagebart bedeckt war, auf eine Hand gestützt, und seine sonnengebräunten Züge waren verhärtet, als ob er versuchte, aus seiner Lektüre schlau zu werden.
Am Ende des Tisches saß ihre Gastgeberin. Mariah Banai, sprachwissenschaftliche Leiterin der Fakultät für Sprachen und Übersetzung der König-Saud und eine der führenden Gelehrten für althebräische Studien in der wissenschaftlichen Welt, war über ihr Mobiltelefon gebeugt und tippte auf den Bildschirm.
Mariah, die aus Israel stammte, trug eine bodenlange türkisfarbene Djellaba mit dazugehörigem Hidschab, der lose um ihren Kopf geschlungen war. Da sie mit überschlagenen Beinen dasaß, blitzten ihre Zehn-Zentimeter-Absätze in stummem Trotz unter dem Stoff hervor. Sie sah aus, als sei sie Anfang vierzig, aber aufgrund ihrer straffen, honiggoldenen Haut ließ sich ihr Alter schwer schätzen. Ihre Nase war so gerade und spitz wie die einer römischen Statue und ihr mahagonifarbenes Haar war wie das eines Jungen geschnitten und so zerzaust, als sei sie gerade aus einem Sturm gekommen. Ihre tief liegenden braunen Augen waren von geschwungenen Brauen überspannt, die wie dicke, schwarze Pinselstriche aussahen.
Mariah legte ihr Telefon beiseite und musterte Sarah. »Sie scheinen verwirrt, Dr. Weston. Kann ich Ihnen etwas erläutern?«
Ihr Blick war so hypnotisierend, dass Sarah sich veranlasst sah, wegzusehen. »Es gibt eine Sache, die ich nicht verstehe. Warum landet eine in ägyptischem Hieratisch verfasste Papyrusrolle mitten in der Wüste? Es gibt nichts, das darauf hindeutet, dass diese Sprache hier gesprochen oder geschrieben wurde.«
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