Sarah spürte, wie das Flüstern einer Brise ihren weißen Florturban zum Flattern brachte, der die unbarmherzige Julisonne abwehrte, die mit Temperaturen von oft über fünfzig Grad auf das Land herabbrannte. Sie benutzte ein Ende des Turbans, um eine Mischung aus Schweiß und Sand von ihrem Gesicht zu wischen. Die winzigen Körnchen zerkratzten ihre helle Haut: ein vertrautes Gefühl.
Die Verhältnisse vor Ort konnten sich kaum deutlicher von denen ihrer privilegierten britischen Erziehung unterscheiden. Die Hausparties auf dem Landsitz ihrer Familie, die geistlose Gesellschaft, die Prominenz und der Einfluss ihres Vaters, das tragische Ende ihrer Mutter, ihre eigene kurzweilige Karriere unter den Gelehrten ihrer Alma Mater, der Universität Cambridge – sie alle waren Überreste einer weit entfernten Vergangenheit. Und so wollte sie es haben.
Sarah nahm die Weite des abgelegenen, ungastlichen Ortes in sich auf, den zu lieben sie gelernt hatte. Sie verspürte Ehrfurcht vor der ausgedehnten Wildnis von Sand und Stein, die so viele Geheimnisse früherer Zivilisation barg, und Demut vor der Unbeständigkeit der Wüste, die sich drehte und wendete wie eine kapriziöse Nymphe, die man flüchtig fassen, doch niemals besitzen konnte.
In dieser unwirtlichen Gegend hatte sie sieben Monate lang als die leitende Archäologin einer von den Universitäten Rutgers und König-Saud gemeinsam finanzierten Ausgrabung gearbeitet, deren Ziel es war, die antike kinditische Stadt Qaryat-al-Fau zu ergraben, die vom veränderlichen Sand der Rub al-Chali verschlungen worden war. Ins Boot geholt wurde Sarah vom Kulturanthropologen Daniel Madigan, der die Expedition vor sieben Jahren zusammengestellt und bedeutende neue Bereiche dieses einst stolzen Handelszentrums entdeckt hatte, dessen Blütezeit im ersten bis vierten Jahrhundert nach Christus gewesen war.
Heute allerdings hatten sich die beiden von der Fundstelle entfernt. Der Hitze wegen operierte die al-Fau-Ausgrabung mit einer reduzierten Crew nur zwei Stunden am Tag, wodurch ihnen viel Freizeit zur Verfügung stand. Zu Anfang des Sommers hatten Sarah und Daniel im Stillen damit begonnen, zwei Meilen nördlich von al-Fau zu graben, an jenem trostlosen Ort, den die beduinischen Nomaden das Tal des Windes nannten.
Dieser Vorstoß war von einer Abweichung auf ihren Satellitenbildern angeregt worden, welche die Möglichkeit eines unter dem Sand begrabenen Areals voller Überreste suggerierte. Tatsächlich war ihr Timing ein glücklicher Zufall: Wenige Monate zuvor hatte ein heftiger Sandsturm im Tal gewütet. Der unbändige Schamal hatte riesige Dünen fortgeweht und den Sand in alle Himmelsrichtungen verteilt. Auf diese Weise regenerierte sich die Wüste.
Und so enthüllte sie auch ihre Geheimnisse.
Daniel ließ sein Pferd neben Sarah zum Stehen kommen. Er verschob die schwarze Baseballmütze auf seinen schulterlangen, mahagonifarbenen Locken, die gerade von so viel Grau durchzogen waren, wie es seinen dreiundvierzig Jahren entsprach. Er sah seine Partnerin durch die dunkelgrüne Fliegersonnenbrille hindurch an und sprach in einem melodischen Tennessee-Akzent. »Ziemlich heiß hier draußen für ein englisches Mädchen. Geht's dir gut?«
»Ich könnte auf die Sauna verzichten. Abgesehen davon ging's mir nie besser.«
»Ja dann. Bereit zum Probensammeln?«
»Los geht's.«
Heute war der erste Tag, an dem sie Proben zur Analyse sammeln konnten, seit sie die über eine gute halbe Meile in der Wüste verteilten Knochen entdeckt hatten. Es gab hunderte von ihnen – porös, zerbrochen, halb im Sand begraben. Manche stammten von Kamelen, andere von Menschen, aber alle waren außergewöhnlich gut in der trockenen, keimfreien Umgebung ihrer Wüstengräber konserviert worden.
Handelte es sich um eine Karawane oder um eine Streitmacht? Die Fragen wirbelten durch Sarahs Kopf und steigerten ihre Aufregung, während sich eine Theorie zusammenzufügen begann.
Gemeinsam stiegen sie ab. Daniel griff in seine Satteltasche und zog ein Set Walkie-Talkies heraus, das einzige Kommunikationsmittel zwischen ihnen und den zwei Crewmitgliedern im Camp. Eines warf er Sarah zu.
Sie streichelte den Hals ihrer grauen Araberstute und klemmte das Walkie-Talkie an den Bund ihrer armeegrünen Cargohose, die in verwitterten Lederreitstiefeln steckte.
Geplant war, nach Süden zu gehen, wo sich die Felsenpassage zu einer Art Mulde verengte. Dort lagen die meisten der Knochen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie die Kamele und ihre Reiter im Durchgang gefangen wurden, als sich große Sandsäulen erhoben, die ihre Verzweiflungsschreie zermalmten und sie ohne Gnade verschlangen. Seit Äonen verfuhr die Wüste so, erhob mitleidlos Anspruch auf alle Kreaturen, die sich durch ihren Sand bewegten. Es war ein Kräftemessen, das kein Mensch für sich entscheiden konnte – damals nicht, und auch nicht heute.
Innerhalb der natürlichen Senke inmitten des Kalksteinmassivs war der Sand von steten Winden zu Wellen geweht worden. So symmetrisch und gleichmäßig auseinander liegend, dass kein Bauzeichner sie mit größerer Präzision hätte planen können, wogten diese Wellen über einen abgeflachten Teil der Wüste, dessen gehärtete Oberfläche mit einem Knirschen unter den Füßen nachgab. Als Sarah auf ihre Fußspuren zurückblickte, bedauerte sie es, einen Abdruck in der Perfektion der Natur hinterlassen zu haben.
Aus dem Sand wuchsen vereinzelte Steppenläuferbüschel, die einzige Lebensform, die sich an das unfruchtbare Ödland klammerte. Eine Pflanze, von ihrer Wurzel getrennt, rollte über die goldene Fläche, als eine heiße Brise darüber wehte. Sarah konnte die leicht salzigen Sandkörnchen zwischen ihren Zähnen schmecken.
Sobald sie ihre Forschungsstätte erreicht hatten, streifte Daniel seinen Rucksack ab und warf ihn auf den Boden. »Ich glaube, wir haben nicht viel Zeit. Sieht aus, als würde der Wind auffrischen.« Er deutete auf die Grube, die sie als Lagerstätte für ergrabene menschliche Knochenfragmente ausgehoben hatten. Den Großteil eines männlichen Arms hatten sie bereits rekonstruiert. »Ich kann mich um das hier kümmern, wenn du am Sattel arbeiten willst.«
Ein paar Tage zuvor hatten sie einen hölzernen Knauf erspäht, nur wenig dunkler als die Wüste selbst, der etwa fünfzehn Meter von der Knochengrube entfernt aus dem Boden geragt hatte. Sie hatten genug Sand beseitigt, um die Rückseite eines Sattelbaums aus Akazienholz freizulegen, an dem noch immer ein Stück schwarzen Seils heftete.
Als Daniel das ausgefranste Seilende untersucht hatte, war Sand herabgerieselt, wo er seinen Daumen über die Stränge gleiten ließ. Ziegenhaar, hatte er festgestellt. Es war ihr erster Hinweis darauf gewesen, dass die Karawane Jahrhunderte alt war. Seile aus Ziegenhaar, die zu weben außerordentlich viel Zeit beanspruchte, waren seit Generationen nicht mehr von den Wüstenbewohnern benutzt worden.
Sarahs heutige Aufgabe war es, einen größeren Teil des grauen Webstoffes freizulegen, der am Sattelbaum angebracht war. Wie auch die Knochen war er so gut erhalten, als sei er gestern erst vergraben worden. Sie kniete sich vor das Objekt und zog Pinsel und Kelle aus ihrem Rucksack.
Die Kamelwolle fühlte sich grob an. Die Fasern waren dick und die Bindung eng, als ob der Stoff ein Gewicht hatte tragen müssen. Einige rote Stickereien verzierten die graue Wolle. Die Farbe war intensiv und die Muster recht aufwendig, was Sarah zu der Annahme veranlasste, dass dies keine Karawane gewöhnlicher Nomaden gewesen war.
Daniels Einschätzung nach war das Gewebe sabäisch. Als Experte für südarabische Völker hatte er den Stich als einen erkannt, der vor der christlichen Zeitrechnung und nur von sehr geübten Stickern angewendet wurde, vielleicht von Hofdamen. Sarah stellte seine Erkenntnis nicht infrage. Ohne Zweifel hatte der Stoff etwas Königliches.
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