Salomon spürte sein Herz gleich einer Militärtrommel schlagen, als er sein königliches blaues Gewand abstreifte und seine vollen schwarzen Locken aus dem Goldband löste, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umgab. Nackt stand er vor seinem Gott, demselben Gott, der ihm die Weisheit gewährt hatte, die Stämme Israels mit Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit zu regieren, und trat in den Teich. Dank des eisigen Wassers fuhr ihm ein angenehmes Frösteln durch den Körper. Er gedachte seines Vaters. König David war nur noch eine Erinnerung, aber für Salomon blieb er ein Gigant. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er ihm wenige Stunden vor seinem Tod gegeben hatte.
Mein Vater, gehet in Frieden, denn ich, Euer Sohn Salomon, gelobe, das eine und glorreiche gesegnete Heiligtum zu errichten und es mit den heiligen Gefäßen zu versehen, so wie von Gott befohlen und von den Prophezeiungen vorausgesagt.
Heute würde er den ersten Schritt zur Erfüllung dieses Versprechens unternehmen.
Mit einer Robe aus purem weißen Leinen bekleidet, folgte Salomon Zadok die Steinstufen zu einer Lichtung im Obstgarten hinauf, wo der Priester eigens für diesen Anlass einen aus Zedernholz gefertigten Altar errichtet hatte. Unter den Schatten der Obstbäume knieten sie vor diesem Altar nieder und baten um Führung, denn was sie zu tun gedachten, war nur jenen vorbehalten, deren Seelen vor dem Himmel makellos waren. Zadok erhob sich als Erster und bot dem König seine Hand zum Kuss; Salomon folgte dieser Aufforderung pflichtbewusst und ohne Vorbehalt.
Zadok näherte sich der Vielfalt an Objekten, die auf dem Altar lagen, und blieb vor dem mittleren stehen. Er entfernte eine weiße Hülle aus gewobener Spinnenseide, unter der ein steinerner Räucherkelch zum Vorschein kam. Dann schüttete er den Inhalt eines kleinen, weißen, mit einem goldenen Löwen bestickten Beutels in seine Handfläche. Diese Körnchen rieb er aneinander, sodass die Wärme seiner Hände ihre ätherischen Öle freisetzen konnte. Dann legte er sie in den Räucherkelch und entzündete sie mithilfe zweier Feuersteine. Ein zaghafter Rauchfaden stieg von dem Gefäß auf.
»Dieser Duft soll die Sinne Deiner demütigen Diener klären, oh Allmächtiger, sodass sie den Visionen, die kommen mögen, offenliegen.« Mit beiden Händen drängte Zadok den Rauch zu seinem Gesicht hin und atmete tief ein. Dann schwenkte er das Räuchergefäß vor Salomon und ließ die Dämpfe von Myrre und Mastix in den König dringen.
Die Nacht war so still, dass sich nicht einmal die Blätter an den Feigen- und Granatapfelbäumen rührten. Salomon war so ruhig wie die Luft, die über seines Vaters Stadt hing, ohne Begehr oder Erwartungen in das Ritual. Er hatte sich ganz fallen lassen, vertraute darauf, dass das Göttliche ihm alles gewährte, dessen er bereit war, und ihm verweigerte, was er noch nicht begreifen konnte.
Trotz aller Rituale und Zeremonien, die seine königliche Herrschaft bestimmten, hatte er niemals an etwas Derartigem teilgenommen. Das Anrufen von Geistern und die Verständigung mit der Anderswelt waren das Hoheitsgebiet Zadoks, des Königreichs Priester und Seher. Salomon hatte vollstes Vertrauen in ihn. Schließlich war er es gewesen, der ihm geholfen hatte, jenen Thron zu besteigen, der ihm nicht rechtmäßig zustand. Der alte Priester hatte seine Loyalität viele Male bewiesen, vor allem als er König David davon überzeugte, dass es Salomon und nicht etwa Davids älterer Sohn Adonia sei, der über Israel herrschen und den heiligen Tempel errichten solle. Und so war es geschehen.
Vorsichtig entfaltete Zadok einige Lagen reinen, weißen Gewebes, das von den Hofdamen aus der Seide tausender Spinnen gewoben worden war, um eine runde Platte aus Kalkstein zu enthüllen, deren Größe und Gewicht an den Kopf eines Mannes erinnerte. Da hineingraviert war der göttliche Kreis, symbolisch für alle Schöpfung, und in dessen Mitte stand der höchst geweihte und unaussprechliche Name Yahwehs.
Die Stimme des Priesters zerriss den Schleier der Stille, der über dem Obstgarten hing. »Oh David, mächtiger und gerechter Herrscher und Vater König Salomons, ich rufe dich beim Namen, der nicht ausgesprochen werden darf und der Furcht in den Herzen der Gottlosen sät. Ich beschwöre deine Anwesenheit durch die zwei Schrifttafeln, auf welchen der ehrwürdige Schwur unseres Volkes geschrieben steht, und durch das heilige Tabernakel, in welchem der Allmächtige wohnt, und durch das Allerheiligste, in welches nur der Hohepriester einzutreten vermag. Zeige dich, oh David, und führe deinen Nachfolger, sodass er sich dem Vermächtnis, das ihm gegeben ward, würdig erweisen möge.«
Die Stille war vollkommen. Zadok nahm eine Handvoll Erde vom Boden auf. Er streckte sie dem Firmament entgegen, und während er sich rechtsherum drehte, streute er ein wenig der Erde in jede Himmelsrichtung, bis sie ganz verteilt war. Dann fiel er auf die Knie. Mit in die Luft erhobenen Händen und zurückgeworfenem Kopf sagte er: »Nachsichtiger und sanftester Geist Davids, ich bitte dich, komme in Frieden. Im höchst geheiligten Namen des Einen, der im Himmel wohnt, der allwaltende Macht besitzt über Kreaturen groß und klein, der das Volk Israels zu Überbringern und Zeugen seines Wortes auserkoren hat, und der die göttliche Gewalt innehat über die Seelen der Menschen, lebend und tot, rufe ich dich, oh David. Tritt hervor und enthülle die Geheimnisse der Engel, die zu dir gesprochen haben, sodass der Wille des Herrn geschehen möge.«
Ein leichter Wind flüsterte durch die Obstbäume und ließ die Blätter für einen Moment – kaum länger als der Herzschlag eines Menschen – erzittern. Salomon entging das Zeichen nicht. Er spürte die Anwesenheit seines Vaters, pur und gestaltlos wie der Chamsin, so deutlich wie er das An- und Abschwellen seines eigenen Atems spüren konnte. Er sog die wohlriechenden Dämpfe ein, die aus dem Räucherkelch aufstiegen, bis sein Kopf ganz leicht wurde, sein Verstand offen und gefügig. Heute Nacht hatte er nur ein einziges Anliegen: den Schlüssel zum Bau des heiligen Tempels auf dem Berg Moriah zu erhalten. Diese monumentale Aufgabe war allein ihm anvertraut worden.
»Mein Sohn, alles, was ich während meines Lebens auf dieser Erde getan habe – jede Schlacht, die ich gewagt, jeden Sieg, den ich errungen, jedes Gebäude, das ich errichtet habe –, geschah in Vorbereitung auf die eine wahre Aufgabe, die da lautet, einen Tempel für den Herrn, unseren Gott, zu bauen, der das alte Zeltheiligtum, welches unser Volk lange auf seiner Reise begleitete, ersetzen wird, um die Dauerhaftigkeit unseres Volkes in diesem Land zu begründen«, hatte sein Vater ihm gesagt. »Viele Jahre lang glaubte ich, diese Aufgabe sei meine Bestimmung. Doch der Herr erschien mir in einem Traum und sagte: David, baue du nicht mein Haus, denn großes Blutvergießen kennzeichnet deine Herrschaft. Einer deiner Söhne soll König werden, und zu seiner Zeit wird Israel den Frieden erleben. Er allein wird würdig sein, eine solch glanzvolle Aufgabe zu erfüllen. Es ist vorherbestimmt, mein Sohn. Du bist es, der diesen Tempel bauen wird.«
Salomon hatte dabei zugesehen, wie König David, der um die Jugend und Unerfahrenheit seines Sohnes wusste, Vorbereitungen für die Umsetzung dieser göttlichen Verfügung traf. In den letzten Tagen seines Lebens hatte der alte König seinen Steinmetzen befohlen, Steine für Bauzwecke zu schneiden, verfügt, dass Zedernholz aus den Ländern im Norden herbeigebracht wurde, und große Mengen an Gold, Kupfer, Eisen und Bronze angehäuft.
Als sein Vater im Sterben lag, erhielt Salomon das wertvollste aller Geschenke: Eine Sammlung von Pergamenten, auf denen die Baupläne des Tempelkomplexes verzeichnet waren, welche David von den vom Himmel herabgestiegenen Engeln offenbart worden waren. Die Pläne zeigten das Vestibül und die inneren Kammern, die Höfe und Schatzlager, die Räume für Priester und Leviten, die zur Durchführung der heiligen Riten benötigten Gefäße und Altare, die Säulen namens Boas und Jachin, das beeindruckende Bronzebecken, und das Allerheiligste, das die Bundeslade beheimaten sollte.
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