Ein Windstoß zischte durch die Passage. Sarah hielt ihren Turban fest und richtete den Blick nach unten, um sich dem Angriff der Sandkörner zu entziehen. Daniel hatte recht: Ihre Zeit war begrenzt.
Sie bürstete den Sand schneller ab, bis sie fand, worauf sie gehofft hatte: Eine Klappe aus demselben Stoff, die auf eine Satteltasche hinwies. Die Wölbung darunter verriet ihr, dass sich die Fracht noch immer darin befand. Ihr Puls beschleunigte sich.
Sie hielt das Walkie-Talkie an ihre Lippen und schaltete es ein. »Danny, das solltest du sehen.«
»Unterwegs.« Seine Stimme am anderen Ende knisterte.
Sie griff in die Satteltasche. Ihre Hand schloss sich um einen runden Gegenstand, dessen Oberfläche sich porös und schartig anfühlte. Sie zog ihn heraus und hielt ihn in ihrer Handfläche. Es war ein rotglasiertes Tongefäß, nicht größer als die Faust eines Mannes, mit winzigen, geschwungenen Henkeln und einem dünnen Hals, in welchem ein Pfropfen aus demselben Ton steckte. Sie drehte ihn langsam und bemerkte einen verblichenen Abdruck auf der irdenen Oberfläche.
Daniel hockte sich neben sie. »Sieht aus, als wärst du auf eine Goldgrube gestoßen.«
»Sieh dir das an.« Sie drehte ihm den Abdruck zu.
Er nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Geflügelte Löwen mit Menschenköpfen … die Cherubim der Antike. Ich glaub's ja nicht.«
»Hätten wir noch einen weiteren Beweis dafür gebraucht, dass es sich hier um eine antike Karawane handelt … das wäre er wohl.«
»Die Form dieses Gefäßes ist kanaanitisch«, sagte er. Das Wort tanzte über seine Zunge. »Vielleicht etwas, das sie eingetauscht haben.«
Sie wog das Gefäß, indem sie ihre Hand leicht federte. »Ziemlich schwer für seine Größe. Vielleicht ist etwas drin.«
Er zwinkerte. »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden.«
Sarah zog am Pfropfen, doch dieser hatte sich leicht verkeilt. Sie drehte ihn abwechselnd nach links und rechts, bis er nachgab. Dann blickte sie in den dunklen Hals des Gefäßes. »Sehen kann ich nichts.« Sie brachte es an ihre Nase und setzte sich kerzengerade auf, als sie den unerwarteten Geruch einatmete.
Sie drehte sich zu Daniel um. »Es ist süß.« Sarah schnupperte wieder und sog einen Duft ein, der an Feigenblüten erinnerte. »Honig. Definitiv Honig.«
Daniel streckte eine Hand aus und sie reichte ihm das Gefäß. Auch er schnupperte daran, dann neigte er das Behältnis, bis ein kleiner Tropfen goldener, zäher Flüssigkeit an dessen Rand erschien. Er lächelte ihr zu. »Eine großartige Entdeckung, Dr. Weston.«
»Ja, das ist es«, donnerte eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Beide drehten die Köpfe in Richtung dieser Stimme herum.
Vier Männer saßen hinter ihnen auf Kamelen. Sie trugen lange, schwarze, hochgeschlossene Thoben mit Sarongs darunter und ärmellose wollene Kibrs, die um die Taille herum zweifach gegürtet waren. Rotkarierte Kufiyas verhüllten ihre Köpfe und Schultern. Die beiden hinteren Männer hielten Gewehre und die Zügel von Sarahs und Daniels Pferden in den Händen. Daniels Pferd, ein feuriger schwarzer Hengst, stieg aus Protest auf die Hinterbeine.
»Ihr habt hier nichts verloren«, sagte der Anführer auf Arabisch. Er hob eine Hand und die Schützen richteten ihre Waffen auf die vermeintlichen Eindringlinge. »Dieses Land gehört uns. Und ebenso alles darin.«
Daniel erhob sich langsam und sprach den Mann auf Arabisch an. »Die Al Murra sind ein friedliebendes Volk. Weshalb bedroht ihr uns?«
»Wir beschützen unser Erbe.«
»Aber wir sind Wissenschaftler. Wir können euch helfen, den Ursprung und die Chronologie dieser Hinterlassenschaften zu bestimmen.«
»Wir brauchen euch nicht. Wir wissen, was wir wissen müssen.« Er und ein weiterer Mann stiegen ab. »Eure Wissenschaft wird nie die ganze Wahrheit enthüllen. Jetzt knie dich neben sie.«
Daniel ging auf die Knie.
»Hände hinter den Kopf. Alle beide.«
Sarah warf erst den beiden Schützen, deren Waffen noch immer auf sie gerichtet waren, dann Daniel einen Blick zu. Sein Ausdruck war angespannt, sein Kiefer verkrampft. Schweiß rann seine Schläfe hinab und grub einen Fluss in den sandigen Film, der seine sonnengebräunte Haut bedeckte. Sie sah zu, wie die beiden Stammesangehörigen den Sattel ächzend anhoben.
Klumpen sonnengebrannten Sandes fielen von ihm ab, als er sein Wüstengrab verließ. Die Männer stopften den Honigtopf in die Satteltasche und hoben den Sattel auf eines der Kamele.
»Das ist kriminell«, sagte Sarah. »Er steht euch nicht zu. Er gehört dem Volk.«
Ihr Anführer durchbohrte sie mit wütendem Blick und richtete einen braunen, staubverkrusteten Finger auf sie. »In diesem Land reden Frauen nur, wenn man sie anspricht. Stelle niemals die Autorität eines Mannes infrage. Du bist nicht ebenbürtig.«
Sie errötete. Obwohl sie die Regeln hierzulande kannte, hatte sie Schwierigkeiten damit, die Rolle der unterwürfigen Frau zu spielen. Es war die Art von Ungerechtigkeit, die sie nicht ertragen konnte. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen.
Der Stammesangehörige ballte seine Fäuste. Sie gab sich keinen Illusionen hin: Er würde es tun.
Sarah biss sich so fest auf die Lippe, dass der metallische Geschmack ihres eigenen Blutes ihren Mund füllte. Sie warf Daniel einen verstohlenen Blick zu. Er sah stur geradeaus, ausdruckslos und sich ihrer Notlage scheinbar nicht bewusst.
Der Stammesangehörige wandte sich an Daniel. »Nehmt nichts mehr von diesem Ort an euch, oder wir werden zurückkehren … mit mehr als nur einer Warnung.«
Er bestieg sein Kamel und gab seinen Männern das Zeichen zum Aufbruch. Eilig ritten sie davon, die Pferde im Schlepptau. Die Hufe der Tiere wirbelten große Staubwolken auf, als sie über die sandigen Ebenen auf die Bergmassive im Westen zu galoppierten.
Daniel erhob sich und atmete hörbar aus. »Was zur Hölle sollte das, Sarah? Du weißt es besser, als solche Kerle zu reizen.«
»Ich weiß, was Frauen hierzulande dürfen und was nicht. Reden ist kein Verbrechen.«
»Du und ich, wir wissen das, aber die sind vom alten Schlag. Die hätten dich umbringen können.«
Auch wenn sie den ganzen Tag über Saudi-Arabiens Entmündigung von Frauen hätte diskutieren können, so war dies doch keine gewinnbringende Debatte. Sie ließ die Sache auf sich beruhen. »Wer waren die überhaupt?«
»Al Murra. Sie sind Nomaden. Kamelhirten.« Er schüttelte den Kopf. »Die Al Murra stammen vom beduinischen Adel ab und sind für gewöhnlich ehrenwerte Menschen. Ich nehme an, diese Typen sind Teil eines Klans, einer Art militärischer Fraktion. Die gibt es in jedem Stamm.«
Sarah beobachtete, wie sie hinter den Felswänden verschwanden, während die Staubwolke hinter ihnen zurückblieb. »Denkst du, das hier ist eine Karawane ihrer Vorfahren?«
»Das ist diesen Rohlingen völlig egal.« Daniel spuckte auf die Erde. »Wahrscheinlich verkaufen sie den Kram und benutzen das Geld, um Waffen zu finanzieren.«
Sarah stand auf. Ihr weites Chambray-T-Shirt flatterte wie eine Flagge im aufkommenden Wind. »Wie weit bist du in der Knochengrube gekommen?«
»Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.« Daniel zeigte mit dem Daumen auf die Felswände, hinter denen die Kamelreiter verschwunden waren. »Ich schlage vor, wir reizen sie nicht noch mehr.«
»Ich geh hier nicht ohne die Knochen weg. Außerdem wird es deine Freunde an der König-Saud wenig glücklich machen, wenn wir mit leeren Händen heimkommen.«
Er schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln, das die Falten um seine Augen herum tiefer erscheinen ließ. »Eines Tages wird dich deine Sturheit noch in Teufels Küche bringen.«
Sie verstand seinen Kommentar als Einwilligung, packte ihre Ausrüstung in den Rucksack zurück und hängte ihn sich über die Schulter. »Dann los. Unsere Proben warten.«
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