Irgendwann schlug Moritz die Augen wieder auf. Er lag in einem Zimmer und starrte gegen eine hölzerne Decke. Die niedrigen Schrägen ließen eine Dachkammer erahnen. Vorsichtig wandte er den Kopf und sah ein weiteres Bett mit einer Wolldecke, keine zwei Meter zu seiner Rechten. Es war leer.
Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. An einer Wand stand ein dreibeiniger Stuhl, auf den jemand Kleidung gelegt hatte: Moritz’ Weste aus La-Ka-Fell, den Teleskopstab, die schwarze Jacke, die ihm langsam zu klein wurde, seine Schuhe und die Hose. Beim Anblick seiner Sachen beschlich Moritz ein komisches Gefühl.
Misstrauisch befühlte er seinen Körper und ertastete Verbände überall. Die Brust war stramm eingeschnürt, auch sein Hals, die Arme, Hände und Füße waren von dicken Wickeln umschlungen. Erleichtert stellte er fest, dass er darunter noch Unterwäsche trug.
Er hob ein Bein, ganz langsam, und versuchte, sich aus dem Bett zu schieben. Es war sehr mühsam, doch das schien eher an den straffen Verbänden zu liegen als an seinen schmerzenden Gliedern. Er stemmte sich nach vorn, um nicht wie ein Käfer hintenüber zu fallen. Dann saß er aufrecht und ließ die Beine an der Seite herunterbaumeln. Sofort überkam ihn ein starkes Schwindelgefühl. Der Raum tanzte vor seinen Augen.
Moritz schlotterte und versuchte, die Schmerzen in seiner Brust zu ignorieren. Es dauerte ein paar Minuten, bis der harte Dielenboden nicht mehr wie bei einem Ritt auf einem Schaukelpferd auf und ab wankte.
Vor ihm, besser gesagt vor seinen bandagierten Füßen, saßen zwei kleine Wesen und starrten ihn an.
Das eine war ein schwarzgesichtiger Krummschweif, von der Größe eines Wiesels. Er hatte riesige, buntgescheckte Augen, die an einen Regenbogen erinnerten. Jetzt waren sie vor Schreck geweitet. Sein langer, gefalteter Schwanz schlug ein imposantes Rad und mit einem Satz verschwand er auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Bett. Nur seine Augen lugten noch darunter hervor.
Das andere Wesen war Moritz gänzlich unbekannt. Das auffälligste Merkmal waren seine milchig weißen Knopfaugen. Die Augen eines Blinden. Moritz vermutete schon, dass das Geschöpf nichts erkennen konnte, doch er irrte sich. Die stachelige Kreatur, die nicht größer war als eine fette Ratte, verfolgte seine Bewegungen mit wachem Interesse. Die blind anmutenden Augen erfassten jede Regung ihres Gegenübers und beobachteten sie stumm.
Moritz betrachtete seine Hände. Dort, wo die Bandagen endeten, kamen überall Schnitte und Schürfwunden zum Vorschein. Die Fingerknöchel waren verschorft, die Fingernägel vom Blut rotbraun verfärbt. Doch die Schmerzen waren verschwunden. Er roch an den Verbänden. Keine scharfen Salben oder Tinkturen. Womit auch immer der Stoff getränkt war, es wirkte.
Moritz wandte den Kopf dem Licht zu. Zu seiner Rechten am Kopfende seines Bettes befand sich ein niedriges viereckiges Fenster unter dem Giebel. Dahinter sah er Bad Greifenstein aus einem ganz neuen Blickwinkel.
Symmetrisch angeordnete Gebäude wurden von Rund- und Vierecktürmen mit roten Dächern in unterschiedlicher Höhe unterbrochen. Die Kirche machte keine Ausnahme – auch sie war ein Bollwerk. Mit zwei wehrhaften Türmen überragte sie die umliegenden Bauten. Greifenstein wirkte aufgeräumt, sauber und vor allem steinern. Sogar die Dächer waren mit rotem Stein gedeckt. Es herrschte eine Strenge, die jedes Haus und jeden Turm in eine mittelalterliche Festung verwandelte. Bereit sich zu verteidigen, bereit zurückzuschlagen. Eine gemeißelte Stadt, die den nächsten Angriff erwartete.
Weite bewaldete Gebirgskämme und Täler erhoben sich im Hintergrund. Dann betrachtete Moritz den Berg, der ihm am nächsten war: ein überhängender, bläulich schimmernder Fels, auf dem eine Burg thronte.
»Wie geht es dir?«
Moritz fuhr herum und entdeckte ein Gesicht, hell wie frische Milch. Dr. Julius Mehltau. Er stand in der Tür, ein Tablett mit Kompressen, einem Becher und einem Wasserkrug in der Hand. Er wollte eintreten, zögerte jedoch. »Da ist es schon wieder«, murmelte er.
Moritz folgte seinem Blick und bemerkte, dass der Arzt das unbekannte Stachelwesen auf dem Fußboden fixierte. Das Wesen musterte ihn ebenfalls kurz, dann wandte es sich wieder Moritz zu.
»Sie kennen sich?«, fragte Moritz und spürte, dass sein Mund träge und trocken war, seine Lippen rissig.
Der Arzt nickte und kam in sicherem Abstand zu Moritz herüber. »Das Fräulein Helene hatte es vor die Tür gesetzt. Zu den anderen. Wie ist es wieder hier reingekommen?«
Moritz lächelte schief. »Sie finden immer einen Weg.«
»Warum tut es das?«, fragte Dr. Mehltau und stellte das Tablett auf dem Bett ab.
»Was?«
Der Doktor deutete auf das unbewegt starrende Wesen.
Moritz zuckte die Schultern. »Vielleicht versucht es, uns seinen Willen aufzuzwingen.«
»Glaubst du, es kann Gedanken lesen?«
»Wer weiß.«
Dr. Mehltau schluckte und Moritz konnte sich ein schelmisches, wenn auch schmerzendes Grinsen nicht verkneifen. Wenn man schon mit grässlichen Blessuren im Streckverband lag und von allerhand unheimlichem Getier verfolgt wurde, konnte man wenigstens Spaß dabei haben.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte er nach einer Weile.
»Über eine Woche. Heute ist der 10. September.«
»Was?« Moritz ruckte erschrocken hoch und sofort begann sich das Zimmer wie wild zu drehen. Er schwankte und drohte nach vorne zu kippen. Der Doktor fing ihn auf und half ihm aufs Bett zurück.
»Sachte, mein Junge! Du brauchst Ruhe, damit deine Verletzungen heilen.«
Moritz’ Atem flatterte. Die Welt um ihn herum kam nur schleppend zur Ruhe. »Was ist mit mir, Doktor?«
Dr. Mehltau räusperte sich. »Du hattest schwere Schnitte, Stiche und Quetschungen – zuerst durch den Angriff der Mimose. Dann kamen durch den zweiten Angriff des … des …«
»Werwolfes«, half Moritz nach.
Auf Dr. Mehltaus Stirn zeigten sich Schweißperlen. »Durch den Werwolf kamen weitere Prellungen am Kopf und Wunden am Oberkörper hinzu. Du hattest mehrere Rippenbrüche. Ich musste einige Knochensplitter mit einer Zange entfernen.«
Moritz schluckte.
»Danach habe ich dich zusammengeflickt und mit einem Verband umwickelt. Wenn sich die Wundränder verfärben, werde ich einen weiteren Aderlass durchführen, damit deine Säfte im Gleichgewicht bleiben.«
Moritz überlief ein Schauer bei den Worten des Doktors. Er hatte sich nicht dagegen wehren können.
»Hast du Schmerzen beim Atmen?«
Gehorsam füllte Moritz seine Lungen mit Luft und atmete kräftig ein und aus. Plötzlich rasten schwarze und weiße Punkte auf ihn zu und hüllten ihn ein. Alles drehte sich.
»Sachte!«, sagte Dr. Mehltau erneut und hielt ihn aufrecht. »Ganz langsam. Atme ruhig weiter. Du sollst keine Windmühlen antreiben.« Der Doktor legte behutsam ein Ohr an Moritz’ Brust und Rücken und horchte. »Du hattest großes Glück, mein Junge.«
Moritz bezweifelte das. Sein Körper fühlte sich fremd und wund an. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge. »Was ist mit dem Wagen?«
Der Arzt hielt inne. »Äh, es tut mir leid. Ich fürchte, das war meine Schuld.«
»Was ist passiert?«
Der Doktor legte die Hände in den Schoß. »Ich weiß nicht, wie viel du mitbekommen hast, aber ich hatte keine Wahl. Dieser, dieser …«
»Werwolf.«
»Ja, er … er wollte deine Schwester und das Fräulein Helene anfallen und da hab ich die Kette genommen und sie nach ihm geworfen. Das Eisen hat sich um seinen Hals gelegt und ich dachte, wenn ich ihn an eurem Wagen festmache, dann könnte er nicht weg, verstehst du? Aber er ist mir hinterhergerannt und hat den Wagen einfach mitgeschleift. Es ging alles so schnell … Der Wagen ist die Straße abwärts gerollt und in einer Kurve umgekippt. Dann ist er in Flammen aufgegangen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber das Feuer kam aus dem Wageninneren.« Dr. Mehltau zitterte, er schien die Nacht ein weiteres Mal zu durchleben. Seine Ausführungen deckten sich mit dem Wenigen, an das Moritz sich erinnern konnte.
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