Dann verharrte der Werwolf. Sein Schnüffeln wurde sanfter, fast zärtlich, als fürchtete er, sich die Nase zu versengen. Er witterte etwas, tastete sich mit all seinen Sinnen voran. Was auch immer er wahrnahm, hielt ihn gleichzeitig auf Abstand. Ehe Moritz einen weiteren Gedanken fassen konnte, hob der Werwolf seinen Kopf und richtete sich zu voller Größe auf. Er warf Moritz einen letzten Blick zu, dann zwängte er sich durch die schmale Hintertür und verschwand in der Nacht.
Moritz zitterte. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Arme waren schwer wie Blei. Langsam wandte er den Kopf. Die Schmerzen raubten ihm fast den Verstand.
Der Wagen war nicht wiederzuerkennen. Käfige waren aufgebrochen, Regale umgekippt, Stoff hing in Fetzen von der Decke, Glasscherben lagen überall verstreut.
Quälend langsam drehte er sich auf die Seite und kroch durch den Wagen. Zentimeter für Zentimeter schob er sich voran, durch Scherben, Holzsplitter und Dreck. Seine Finger krallten sich in die Fugen der Dielen und zogen den schmerzenden Körper vorwärts. Er musste zu Konstanze und Helene, musste sie beschützen!
Tränen schossen ihm in die Augen. Die Hintertür kam langsam näher. Die kühle Nachtluft wehte in den zerstörten Wagen und durchbohrte seine Lunge. Sie schien brennende Löcher in seinen Körper zu stanzen.
Mehrere Augenpaare beobachteten ihn. Einige der Kreaturen, die vor ihren zerbeulten Käfigen hockten, sahen interessiert zu, wie er sich bäuchlings vorwärtsbewegte. Langsamer als langsam. Selbst ein Scheußlich-schädlicher Schnickschnack hätte ihn in seiner derzeitigen Verfassung überholt.
Moritz gab nicht auf. Die Hintertür kam in Reichweite. Er streckte seinen rechten Arm aus, umfasste den Rahmen und zog sich nach vorn. Sein Schädel drohte zu zerspringen. Halb hing er aus dem Wagen, dann versuchte er, ein Bein anzuwinkeln. Er fand Halt an einem Regal und schob sich heraus. Wie ein nasses Wäschestück klatschte er auf das Pflaster und blieb auf dem Bauch liegen.
Moritz wandte den Kopf, so gut es ging, und spähte unter dem Wagen mit seinen riesigen Speichenrädern die Straße hinauf. Schatten bewegten sich. Schmutzig weiße Pfoten. Der Werwolf drehte sich um sich selbst. Ein Schnüffeln hob an.
Plötzlich ein Poltern, gefolgt von einem unterdrückten Schrei.
»Konstanze …«
Moritz kniff die Augen zusammen, dann entdeckte er sie im fahlen Mondlicht. Seine Schwester stand keine zwanzig Meter entfernt an einer hohen Mauer, mitten auf einer kleinen Schutthalde. Kisten, Bretter, Fässer und Müll stapelten sich dort. Helene und die Elster waren bei ihr. Sie halfen Konstanze, den unter ihren Füßen nachgebenden Berg zu erklimmen und versuchten sich gemeinsam über die Steinwand zu retten.
Moritz hörte Schritte über das Pflaster patschen. Dr. Mehltau rannte auf den Werwolf zu. Er hatte offensichtlich seinen Mut wiedergefunden und hielt etwas Rasselndes in der Hand: eine Eisenkette. Der Doktor lief am Dampfwagen entlang, stoppte auf halber Strecke und hantierte am Fahrzeug herum. Schließlich hastete er weiter.
Der Werwolf sprang den Mädchen hinterher. Die Elster sauste ihm entgegen und attackierte ihn im Flug. Die Bestie schnappte nach ihr und krachte ungebremst in den Schutthaufen. Die Hinterbeine des Untiers strampelten und seine Krallen schabten übers Pflaster. Der Werwolf sprang an Kisten und Fässern hoch und versuchte die Mädchen zu schnappen, als sich unvermittelt eine Kette um seinen Hals legte.
Dr. Mehltau stieß einen hellen Triumphschrei aus – und zuckte zurück. Der Werwolf riss an der Kette, verlor den Halt und krachte vom Schutthaufen auf die Straße vor die Füße des Arztes. Der schrie auf und rannte in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter – vorbei am Wagen und an Moritz. Die Bestie wetzte mit klirrender Kette hinterher.
Moritz sah den beiden kurz nach, aber dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Die Kette, die immer noch um den Hals des Werwolfes hing, spannte sich mit einem metallischen Ruck und der Wagen geriet ins Rollen.
Moritz versuchte fortzukriechen, doch es gelang ihm nicht. Seine Arme protestierten und die Beine waren wie gelähmt. Mühsam blickte er über die Schulter und sah, dass seine Füße genau in der Fahrrinne lagen. Sie würden überrollt und zerquetscht werden.
Der Wagen knirschte auf dem Pflaster. Die Räder holperten erst über einen Stein, dann noch einen und noch einen. Sie kamen auf Moritz zu. Ein Stück weiter die Straße hinunter zog der Werwolf wie von Sinnen an der Kette und brachte das Fahrzeug in Schwung.
Moritz krallte sich in den Lücken der Steine fest und versuchte sich fortzuziehen. Fort von den Rädern, fort von dem malmenden Geräusch, das sie erzeugten. Doch er hatte keine Kraft mehr. Jede Bewegung schmerzte und raubte ihm fast die Sinne. Weg hier, schnell!, brüllte die Stimme in seinem Kopf, doch sein Körper war taub.
Hilflos sah er die Räder auf sich zukommen, als er gepackt und fortgezerrt wurde. Ein Schmerz raste durch seinen Körper und ließ ihn aufschreien. Tränen schossen ihm in die Augen. Das Fahrzeug glitt außer Reichweite, bis es keine Gefahr mehr darstellte. Das kolossale Vehikel aus Holz, Metall und Glas rollte die leicht abschüssige Straße hinunter, begleitet von brachialem Scheppern.
Moritz’ Körper kam zum Liegen. Da waren große Hände, ein gerötetes Gesicht und dunkle Haare. Rita. Sie hatte ihn behutsam auf den Stufen der Schwarzen Katze abgelegt.
»Beweg dich nicht«, sagte sie.
Ein guter Witz – der beste heute Nacht. Doch Moritz’ Galgenhumor erstarb, als er Ritas Augen sah. Sie verrieten ihm, dass er übel zugerichtet war. Ihre Hände glänzten von seinem Blut.
»Der Wagen«, keuchte er.
Rita schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht wichtig.«
Moritz versuchte, sich zu erheben. »Unsere Aufzeichnungen …«
Schritte näherten sich. Helene und Konstanze kamen herbei. Und die Elster. Sie krächzte aufgeregt.
Moritz hörte gar nicht, was sie sagten. Er starrte die ganze Zeit nur Rita an und Rita starrte zurück. »Der Wagen«, flehte er. »Bitte!«
Ritas Ausdruck war so voller Mitleid, dass er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, biss sich auf die Unterlippe und rannte dem Wagen hinterher.
Moritz wollte erleichtert seufzen, doch er hielt sofort inne, denn es bereitete ihm Höllenqualen. Konstanze streichelte ihn mit tränenüberströmtem Gesichtchen. Jede ihrer Berührungen ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Er konnte Helenes zerfetzten Ärmel sehen und die Wunde, die der Werwolf in ihren Arm geschlagen hatte, doch sie blutete nicht.
Moritz drehte den Kopf, so weit er konnte. Am unteren Ende der Straße flammte ein gelber Blitz auf. Eine Stichflamme schoss in den Nachthimmel hinauf. Der Dampfwagen! Er lag umgekippt und verkeilt zwischen den Häusern. Aus seinem schweren Metallbauch loderte eine Feuersäule empor. Moritz spürte die Hitzewelle selbst hier an den Stufen des Wirtshauses.
»Nein«, murmelte er schwach. Die vielen Monster, die Boogelbies, der kleine Fips, die Aufzeichnungen und Erinnerungen an Edgar … alles brannte.
Rufe vermischten sich mit dem Heulen des Werwolfes, das irgendwann abriss. Moritz glaubte, unheimliche Geschöpfe zu erkennen, die sich aus dem brennenden Wrack befreiten und seelenruhig über das Pflaster spazierten. Sie vermischten sich mit fremden, menschlichen Schemen, die aus ihren Häusern gestürmt kamen und nach Löschwasser riefen.
Doch in all dem Chaos achtete Moritz nur auf Ritas gewaltige Silhouette: Sie stand wie angewurzelt da und starrte in die Feuersbrunst. Sie kam zu spät.
Feurige Bilder tanzten vor Moritz’ Augen. Riesige, brennende Mäuler verfolgten Helene, Konstanze, die Elster, Rita und Dr. Mehltau eine gewundene Straße hinunter. Der Mann namens Jauche und etliche Monster rannten zwischen ihnen. Auch Fips war darunter. Dann landeten sie in einer Sackgasse – sie saßen in der Falle. Die lodernden Kiefer stießen auf sie hinab. Glühende Reißzähne schnappten sich einen nach dem anderen und zermalmten sie zu Asche, während ein Nachtalb gehässig lachte …
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