Helene legte den Kopf schief – so schief, dass Moritz bereits vom Hinsehen schwindelig wurde.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und streichelte die Elster versonnen. »Irgendetwas ist hier in Aufruhr. Und ich fürchte, es ist keine Horde Feuerspeier.«
Sie hatte den Satz kaum beendet, als Fips die Ohren aufstellte und lauthals losschränzte. Etwas krachte auf das Dach des Dampfwagens. Vor Schreck verlor die Elster den Mundschutz.
Die Tür des Wagens schwang auf und Konstanze flog in Moritz’ Arme. Sie zitterte am ganzen Leib. Auf dem Pflaster stand Dr. Julius Mehltau und starrte hinauf zum Dach des Dampfwagens. Seine Körperhaltung ließ erkennen, dass er das Mädchen in den Wagen gestoßen hatte, um es vor irgendetwas zu schützen.
Ein Geräusch hallte vom Dach. Krallen schabten über Metall. Dann schoben sich bleiche Klauenhände um die Oberkante des Türrahmens. Ein gewaltiges Biest sprang herunter. Sein Fell schimmerte weiß wie Schnee, sein Körper füllte die schmale Tür mühelos aus. Es war fast zwei Meter groß. Eisblaue Augen funkelten wie Diamanten und eine lange, spitze Schnauze stieß ein raues Heulen aus.
»Ein Werwolf!«, brüllte Moritz. Er stolperte rückwärts und zog Konstanze mit sich. Er fiel über Käfige, Bücherstapel und Körbe, während das weißhaarige Biest seine breiten Schultern durch die Tür zwängte. Der Werwolf fletschte die Zähne und setzte zum Sprung an, als ihn etwas am Hinterkopf traf: ein Herrenschuh mit verschnörkelter Schnalle.
Die Bestie wandte langsam den Kopf. Ihr Blick ruhte auf Dr. Mehltau. Der junge Arzt wollte soeben den zweiten Schuh zur Hand nehmen, um ihn in ein Wurfgeschoss zu verwandeln, erkannte aber scheinbar, wie albern die Idee war, denn er ließ den Schuh fallen und rannte davon.
Moritz zerrte Konstanze, Helene und die Elster tiefer in den Wagen hinein – die Bestie stürzte hinterher. Sie drängten sich in der letzten Ecke des Dampfwagens an die Wand, der Werwolf vor ihnen füllte den Raum bis unter die gebogene Decke aus.
Moritz fischte einen Teleskopstock aus einem Werkzeugkorb und betätigte einen der Knöpfe. KLICK! Der Stab verlängerte sich und traf die Bestie auf die Brust. Das Ungeheuer rang nach Luft. Für Moritz Zeit genug, um sich zu orientieren. Da, der Vorhang zu Edgars früherem Arbeitszimmer! Der Schrecken ließ ihn jegliche Schmerzen vergessen und er hetzte los – der Werwolf japsend hinterher. Im Laufen löste Moritz den dritten Knopf aus und verwandelte den Stock in eine Klinge. Mit einem Hieb durchtrennte er die Vorhangschnur, die den Durchgang markierte. Der Stoff schwang in einer Welle aus Purpur und Gold in den Raum. Die Bestie krachte hinein und riss den Vorhang von der Stange. In einem zappelnden Wust aus Brokat und Kordel schlug sie der Länge nach hin.
»Wir brauchen Silber! Schnell!«
Helene ergriff eine der dicken Stricke, die wie Schlangen über den Boden tanzten. Die Elster krallte sich eine weitere im Flug und ließ sie in ihre Hände fallen. Helene packte die Enden und zog. Mit einem Ruck raffte sich der Stoff und der Oberkörper des Wolfes steckte wie in einem Sack fest. Er knurrte und wehrte sich unbändig. Dabei schnürte er sich immer weiter ein. Eine Klaue bohrte sich durch den Stoff und zerfetzte ihn mit einem scharfen Geräusch. Helene wich zurück.
Unterdessen kauerte Konstanze unter einer Werkbank und wühlte in Körben und Kisten. »Verdammt, wo steckt das Ding bloß?« Sie fand einen tiefen Kasten und verschwand darin.
Moritz hingegen leerte die Schubladen an Edgars altem Arbeitsplatz. Wo war der Silberbolzen? Schon tausend Mal hatte er die uralte Pistole in den Händen gehabt – groß, sichelförmig, aus purem Silber. Moritz’ Kopf dröhnte und sein Körper schmerzte. Alles schien sich an der falschen Stelle zu befinden. »Wo nur? WO?!«, fluchte er.
Der Kopf des Werwolfes drückte sich durch den Vorhangstoff. Zuerst die Nase, dann die hochgezogenen Lefzen, schließlich der Rest des Schädels. Der Kopf war frei. Kalte Augen suchten den Wagen ab und entdeckten Helene. Eine Kralle zwängte sich durch das Loch am Maul vorbei und langte nach ihr. Mit den Hinterläufen kratzte das Untier über den Boden. Ein Ruck stoppte den Wahnsinnigen, als der Vorhangstoff zwischen Dielenbrettern und Metallplatten hängen blieb.
Helene wich zurück, bis sie gegen ein Regal stieß. »Beeilt euch!«
»Ich hab’s gleich«, schrien Moritz und Konstanze gleichzeitig von gegenüberliegenden Seiten.
Die Bestie riss am Stoff und seine Krallen erwischten Helenes Unterarm. Schützend zog sie ihn zurück.
Konstanze sprang hinter der Werkbank hervor, als der Werwolf einen weiteren Vorstoß wagte. Er schnappte nach Helene, wieder und wieder. Die Elster flatterte aufgeregt dazwischen, versuchte nach den Augen des Monsters zu hacken, doch sie konnte nichts ausrichten.
Moritz sah, wie Konstanze mit einer Waffe in der Hand auf das Fellbiest zurannte. »Nein, warte, das ist –«
Der Werwolf wandte ihr den Kopf zu.
PAFF!
»Nachtschattenpulver!«, würgte Moritz hervor, als Konstanze den Abzug betätigte. Eine Ladung Dunkelheit explodierte in der Schnauze des Werwolfs. Beißende Schwärze hüllte den Wagen in Sekunden ein. Moritz’ Lungen füllten sich mit Qualm.
»Ich weiß«, hustete Konstanze.
Der Werwolf röchelte stoßweise. Er winselte in der Dunkelheit und schien die Orientierung verloren zu haben, so wie Moritz.
»Konstanze? Helene? Wo seid ihr?«
»Hier!« Wieder ein Husten. »Hier drüben!«
Langsam lichteten sich die blauschwarzen Schwaden. Schemenhaft konnte Moritz die Umrisse von Helene und Konstanze erkennen. Sie kauerten hinter einem umgekippten Regal, während die Elster herumflatterte. Der halb eingewickelte Werwolf befand sich zwischen ihm und den Mädchen. Die Bestie wälzte sich auf dem Boden, zog und zerrte am eingeklemmten Stoff und verknotete sich weiter. Seine Schnauze spie schwarzen Speichel aus.
Moritz musste ohne Silberbolzen zu Helene und Konstanze. Er spannte die brennenden Muskeln an, setzte zurück und stieß sich ab. Mit einem Satz war er in der Luft und sauste über das zuckende Fellbündel hinweg. Auf dem Höhepunkt seines Sprungs bäumte sich der Werwolf auf. Ein Gebiss, das wie eine Bärenfalle aufklappte, schnappte nach Moritz’ Bauch und verfehlte ihn um Haaresbreite.
Moritz krachte gegen das Regal, hinter dem sich die Mädchen verschanzt hatten, überschlug sich und landete auf der anderen Seite der Barrikade. Nach Luft schnappend suchte er das nächstbeste Bullaugenfenster, das groß genug war, um hindurchzukriechen, und ließ seinen Teleskopstab darauf zuschnellen. Es zerbrach mit einem Klirren.
»Raus da, los!«, brüllte er, während der Vorhang hinter ihm vollends riss und der Werwolf frei war.
Das Monstrum sprang, als die Mädchen zu klettern begannen.
Moritz blieb nichts anderes übrig: Er breitete die Arme aus und warf sich dem Ungetüm entgegen. Der Aufprall nahm ihm schier den Atem. Er krallte sich im Pelz der Bestie fest und wurde hin- und hergeworfen. Klauen gruben sich in sein Fleisch und fügten ihm Schmerzen zu, die seinen Körper in Brand steckten. Dann wurde Moritz fortgeschleudert und blieb zwischen Käfigen und Büchern liegen. Der Werwolf drehte sich verwirrt um sich selbst, bis sein Blick auf Moritz fiel – die Zecke in seinem Fell.
Das Untier heulte und röchelte in blanker Raserei. Seine vom Nachtschattenpulver geschwärzte Schnauze senkte sich herab und Moritz roch fischigen, heißen Atem.
Ein heiseres Wimmern entrang sich Moritz’ Kehle. Er fürchtete, die Kreatur würde ihm in nächsten Moment das Gesicht wegreißen – doch sie biss nicht zu. Sie schnüffelte nur, inhalierte, tastete ihn mit ihrem Geruchssinn von oben bis unten ab.
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