1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Wir wissen es nicht«, sagte Moritz bitter.
Helene schlug die Augen nieder.
Während sich das Schweigen wie ein Tintenfleck in dem verwüsteten Gasthaus ausbreitete, spürte Moritz eine Bewegung unter den Kompressen. Ein Krabbeln. Er wandte den Kopf, soweit es die Schmerzen zuließen, und sah aus dem Augenwinkel, wie ein wurmähnliches Etwas unter den Verbänden seinen Ellenbogen hochkletterte. Als es die Schulter erreicht hatte, lugte es unter den Tüchern hervor. Der Schattengeck war zurück.
Die Elster keckerte leise und Konstanze zupfte das Geschöpf vorsichtig von seiner Schulter. Es rollte sich zusammen und bildete auf ihrer Handfläche eine schützende Kugel aus weichem dunkelrotem Flaum.
»Ich sperre ihn besser in ein Glas«, murmelte Konstanze.
Moritz nickte und begriff, dass alle Anwesenden die seltsame Szene mitverfolgt hatten.
Rita stemmte die Hände in die Hüften und Dr. Mehltau polierte verwundert seinen Zwicker. Die vier Männer blickten sich gegenseitig an.
»Hast du schon mal von einem Mock gehört, Tonke?«
»Nein, Kante, noch nie. Stiller?«
Kopfschütteln.
»Jauche?«
»Gnumpf … hbn …«
Schweigen.
»Wer will ein Bier?«
Rita reckte das Kinn. »So weit kommt das noch! Macht dass ihr rauskommt! Und ich erwarte euch morgen früh für die Aufräumarbeiten. Pünktlich um acht!«
»Aber Rita …«, versuchte es der Mann namens Tonke.
Der strenge Blick der Wirtin ließ ihn sofort verstummen.
»Wir nehmen besser die Hintertür«, murmelte der Herr namens Kante. Es schien ihm sicherer zu sein, nicht noch mal an Rita vorbeizumüssen. Die Männer verschwanden in einem Durchgang links von dem, was einmal der Schanktisch im hinteren Teil des Wirtshauses gewesen war.
Dr. Mehltau wandte sich an Moritz. »Tut mir leid, Junge, aber ich habe noch nie von diesem Mock gehört.« Er blickte Rita hilfesuchend an.
»Die Hintertür?«, brummte diese mehr zu sich selbst. »Entschuldigt, ich schaue kurz, dass diese Halunken nichts mitgehen lassen.« Sie hob einen der letzten unversehrten Krüge vom Boden auf und folgte den Männern.
Moritz, Konstanze und die Elster sahen sich an. Helene hingegen glättete ihr zerrissenes Kleid und ging hinterher.
Ein kleiner, niedriger Raum erwartete Helene auf der anderen Seite des Durchgangs. Bruchsteinwände und Deckenbalken, die von Ruß geschwärzt waren. Die Küche der Schwarzen Katze.
Ein großer Arbeitsblock, quadratisch und steinern, stand in der Mitte des Raumes, bedeckt mit Töpfen, Kellen, Messern, Tellern und allerlei anderen Küchenutensilien. Der Rest der Einrichtung presste sich an die umliegenden Wände. Helene entdeckte zu ihrer Rechten eine große Tür, die von einer Sitzbank und einer offenen Feuerstelle flankiert wurde.
Dort standen die Herren Kante, Tonke, Stiller und Jauche – Namen, die zweifellos zu ihren Besitzern passten. Einer nach dem anderen passierte Rita auf dem Weg hinaus in die stinkende Nacht und musste eine kurze Taschenkontrolle über sich ergehen lassen. Ein halber Krug Bier, eine Wurstpelle und eine vertrocknete Mohrrübe kamen zum Vorschein. Letztere zog Rita dem Mann namens Stiller aus der Manteltasche, der nur entschuldigend die Schultern hob.
»Morgen früh um acht«, knurrte Rita den Herren hinterher, ein Küchentuch vor den Mund gepresst. Im Hintergrund schlug eine Turmuhr die dritte Stunde.
Der Einzige, der nichts hatte mitgehen lassen, war Jauche. Dafür verweilte er etwas länger auf der Schwelle und sog die unappetitliche Luft in vollen Zügen ein. Rita schloss die Tür erst, als auch er in der Dunkelheit verschwunden war. Dann legte sie ihre absurde Waffe auf einem Schränkchen ab und kramte in einer Schublade. Sie fand ein Medizinfläschchen und entkorkte es mit den Zähnen, bevor sie etwas von der Arznei auf ein Tuch träufelte. Vorsichtig betupfte sie damit ihren Arm.
»Wie ist der Schmerz?«
»Himmel Herrgott!« Rita stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. »Schleich dich nie wieder so an, Mädchen!«
»Das war keine Absicht.«
Ein Moment verstrich, in dem Helene sie anstarrte. »Können Sie den Schmerz beschreiben?«
»Es brennt höllisch«, brummte die Wirtin.
»Möchten Sie, dass ich Dr. Mehltau hole?«
Rita schüttelte den Kopf und wickelte sich den Lappen um den Arm. »Lass nur, mein Täubchen. Das heilt schneller, als du denkst.« Mit einer Hand versuchte sie, einen Knoten festzuzurren.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Rita ließ das Mädchen gewähren.
»Eine interessante Waffe haben Sie da«, sagte Helene mit einem Blick auf das dickbäuchige Schießeisen.
»Mein Brezelwächter? Der ist uralt.« Rita tätschelte den Lauf des Unikums. »Aber funktioniert noch wie am ersten Tag!«
»Brezelwächter?«
Rita grinste schief. »Mein Mann Alfred hat ihn so getauft. Hat ihn selbst gebaut, von unseren letzten Groschen.«
Helene suchte die Augen der Frau und tauchte einen Moment darin ein. Sie fand Schmerz und Einsamkeit und Vermissen. »Wie ist er gestorben?«, fragte sie leise.
Ritas Gesicht veränderte sich. »Du redest nicht lange um den heißen Brei herum, was?«
»Verzeihen Sie«, sagte Helene.
»Schon gut. Das Ganze ist ein paar Jährchen her.« Rita lächelte. »Zu viele.«
»Was ist ihm zugestoßen?«
»Eines dieser Biester«, sagte Rita und deutete vage in die Nacht jenseits der Küche hinaus. »Er wurde verschleppt. Habe ihn nie wieder gesehen …«
Helene nickte kaum merklich.
Rita rang sich ein Lächeln ab. »Mein Alfred war ein zäher Hund. Ich schätze, das Biest ist an ihm erstickt.« Sie mühte sich redlich, ihren Schmerz zu verbergen. Helene sah jedoch, wie ihre Hand flüchtig etwas an ihrer Brust berührte: einen silbernen Anhänger – die Hälfte einer zerbrochenen Brezel. »Möchtest du etwas trinken, mein Täubchen?«
»Danke, ich trinke nie.«
Rita sah sie betroffen an. »Verstehe. Aber die andere Kleine, äh, Konstanze? Sie trinkt doch bestimmt etwas, oder?«
»Sicher.« Helene versuchte erneut, einen Blick in Ritas Augen zu erhaschen. »Es ist bestimmt nicht leicht, hier zu leben.«
»Man gewöhnt sich daran.« Rita holte einen Krug hervor und füllte ihn mit Wasser. »Wenn diese Biester nicht wären, hätten sich zuerst die Franzosen und jetzt die Russen oder die Schweden hier breitgemacht. Wir haben also Glück im Unglück.« Sie reichte Helene ein Tablett.
»Sie leben mit diesen Wesen Seite an Seite?«
»Mehr oder weniger.« Rita stellte ein paar Becher auf das Servierbrett. »Wir haben uns daran gewöhnt, in der Stadt zu bleiben. Meine Großmutter hat immer gesagt: Halt dich fern vom Beschwipsten Pfaffen und der alten Wesselburg! Das ist verfluchtes Land.«
»Der Beschwipste Pfaffe?«
»Der Berg, auf dem die Wesselburg steht. Niemand geht dort hin – seit Jahrhunderten nicht.«
Helene legte den Kopf schräg. »Warum nicht?«
»Dort wimmelt es nur so von diesen Ungeheuern«, sagte Rita. »Manchmal hört man sie bis in die Stadt. Was auch immer die dort treiben, es ist nichts Gutes, so viel steht fest.«
»Die Monster kommen von der Burg?«
»Worauf du deinen Hintern verwetten kannst, mein Täubchen.«
Helene senkte die Lider. Ein Gedanke flammte in ihrem Geist auf. So nahe waren sie noch nie an der Möglichkeit gewesen, in Kontakt mit unterschiedlichen Monstern zu treten. »Vielleicht …«, murmelte sie.
»Vielleicht was?«
Helene sah Rita geradeheraus an. »Vielleicht kann uns eines dieser Wesen helfen, den Mock zu finden.«
Rita reckte das Kinn. »Ich glaube, du machst dir keine Vorstellung davon, wo du hier bist, mein Täubchen. Das ist Greifenstein! Wir leben hier, weil wir hier unsere Wurzeln haben. Wir haben uns mit den Biestern arrangiert.« Sie deutete zum Fenster. »Der Gestank, der draußen durch die Stadt weht, das sind die! Mit dieser Teufelei wollen sie uns loswerden. Jede gottverdammte Nacht! Aber wir gehen hier nicht weg. Das ist unsere Stadt und wir verteidigen sie! Und ihr Kinder solltet besser gar nicht hier sein. Wir gehen nicht hinauf und die kommen nicht herunter, so lautet die Regel.«
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