Der empörte H erhebt sogleich Klage gegen den Bescheid vom 25. Mai 2020, soweit ihm lediglich eine Sondernutzungserlaubnis für die 42. Kalenderwoche erteilt worden ist. In der Klageschrift rügt sein Prozessbevollmächtigter, Rechtsanwalt R (der zugleich Mitglied des Gemeinderats ist) insbesondere, dass die Vergabe der Standplätze nach fehlerhaften Kriterien erfolge. Der Aspekt „bekannt und bewährt“ sei eine bei der Entscheidung über eine Sondernutzungserlaubnis unzulässige Erwägung und dürfe demnach nicht berücksichtigt werden. Demgegenüber macht die Klageerwiderung geltend, die Klage sei schon deshalb unzulässig, weil H aufgrund kommunalrechtlicher Vorgaben nicht ordnungsgemäß vertreten sei. Darüber hinaus stehe aufgrund des Bescheides vom 29. Mai 2020 bereits fest, dass H nicht als Stammbeschicker zu behandeln sei. Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet, da die Vergabe der Standplätze nach zulässigen und sachgerechten Kriterien erfolge.
32Ähnlich wie im vorhergehenden Sachverhaltsbeispiel ergibt sich für den Sachverhalt 6 die zugehörige Fallfrage nach dem Schlussabsatz des Sachverhaltstextes „wie von selbst“:
33 Fallfrage (n) 6:Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?
34Und ebenso wie im Sachverhalt 5 liefert auch im Sachverhalt 6 – es handelt sich um den Prüfungsgegenstand einer im Rahmen eines Examenklausurenkurses ausgegebenen Klausur (vgl. dazu Mückl , Examensklausur öffentliches Recht: Der Stand auf dem Kartoffelmarkt, JURA 2002, 627 ff.) – insbesondere der Schlussabsatz das an Hinweisen, was zur Erfassung der „eigentlichen“ Fallfrage(n) erforderlich ist (zur Auswertung von Bearbeitervermerken, Bearbeitungshinweisen und Fallfragen vgl. anschließend C. I.).
35Um der begrifflichen Klarheit willen empfiehlt es sich, zwischen dem Prüfungsgegenstand und der Aufgabenstellung einer juristischen Hausarbeit und/oder Klausur zu unterscheiden. Prüfungsgegenstand ist ein konkreter Lebenssachverhalt, kurz: der Sachverhalt . Mit ihm sachlich eng verknüpft ist die Aufgabenstellung. Und erst die enge sachliche Verzahnung des Sachverhalts mit der Aufgabenstellung produziert das, was in einer juristischen Klausur oder Hausarbeit zu bearbeiten ist: den Rechtsfall .
36Der wohl wichtigste Bestandteil der Aufgabenstellung ist (sind) die Fallfrage(n). Daneben enthält sie „Bearbeiter- bzw. Bearbeitungshinweise“ oder auch „Hinweise zur Bearbeitung“, die u. a. den Umfang der geforderten Fallprüfung inhaltlich/materiellrechtlich und formal genauer bestimmen und begrenzen (können). Je nach Rechtsgebiet – Zivilrecht, Strafrecht, öffentliches Recht – variieren die Fallfragen nach Art und Fragerichtung/-ziel:
37Für zivilrechtliche Rechtsfälle typische Fallfragen etwa sind darauf gerichtet, schuld-, sachen-, familien- und/oder erbrechtliche etc. Ansprüche auf das Vorliegen ihrer Voraussetzungen und ihre Durchsetzbarkeit zu (über)prüfen. Je nach Anzahl der im konkreten Lebenssachverhalt auftretenden Personen kann es sich dabei um Kaufpreis-, Werklohn-, Herausgabe- oder Besitzansprüche etc. von einzelnen oder mehreren Personen (Anspruchstellern) in Zwei- oder Mehrpersonenverhältnissen handeln (näher dazu Zweiter Teil, B. II.).
38Bei der Bearbeitung von Strafrechtsfällen geht es stets darum, die Strafbarkeit der im Sachverhalt handelnden (oder pflichtwidrig unterlassenden) Personen in ihrer Rolle als Täter oder sonstige Tatbeteiligte zu überprüfen und festzustellen. Dementsprechend wird in der Aufgabenstellung zumeist nach der Strafbarkeit eines Täters oder mehrerer Tatbeteiligter (Täter und oder Teilnehmer i. e. S.) gefragt. Die für Strafrechtsfälle charakteristischen Fallfragen lauten deshalb: „Hat sich A strafbar gemacht?“ oder „Haben sich A, B, C und D strafbar gemacht?“ oder „Wie haben sich die Beteiligten strafbar gemacht?“ oder – wenn konkret nach Personen und gesetzlichen Straftatbeständen gefragt ist – „Hat sich A wegen Betruges gem. § 263 StGB strafbar gemacht?“ etc. (näher dazu Zweiter Teil, C. I. u. II.).
39Was schließlich die Fallfragen in Rechtsfällen auf dem(n) Gebiet(en) des öffentlichen Rechts betrifft, ist für sie charakteristisch, dass fast immer nach der verfassungs- oder verwaltungsrechtlichen Unbedenklichkeit oder Rechtswidrigkeit eines Gesetzes, einer Rechtsverordnung, einer behördlichen Maßnahme oder Entscheidung etc. gefragt und diese Fragestellung mit der Frage nach der Zulässigkeit und/oder Begründetheit einer verwaltungsrechtlichen Klage oder Verfassungsbeschwerde etc. verquickt ist. Eingekleidet sind derlei konkrete, häufig erst noch aus der gesamten Aufgabenstellung heraus zu erarbeitende Fallfragen (vgl. dazu Erster Teil, C. I.) in allgemein gehaltene Fragen wie „Hat die Klage (gemeint ist eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage etc.) Aussicht auf Erfolg?“ oder „Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?“ oder „Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde?“ etc. (näher dazu Zweiter Teil, D. I.).
C.Methodik der Fallbearbeitung
I.Die Fallfrage – nicht mehr, aber auch nicht weniger
40Über die Sachrichtigkeit einer Falllösung und damit über die Güte einer juristischen Hausarbeit oder Klausur entscheidet zuallererst das korrekte Verständnis des (wechselbezüglichen) Zusammenhangs zwischen konkretem Lebenssachverhalt und zugehöriger Aufgabenstellung. Um den zu bearbeitenden Rechtsfall (korrekt) verstehen zu können, ist dementsprechend zweierlei erforderlich: die sachgerechte Auswertung der Aufgabenstellung und das unter dem Blickwinkel der ausgewerteten Aufgabenstellung zutreffende Erfassen des Sachverhalts. Beides hängt zwar eng miteinander zusammen und geht im Verstehen des Rechtsfalls – häufig unreflektiert – ineinander über, beides lässt sich aber im Sinne einer notwendigen Methodik der Fallbearbeitungformal und sachgedanklich voneinander trennen.
1.Sachgerechtes Erfassen der Aufgabenstellung
41Was die Auswertung der Aufgabenstellunganbelangt (zur Arbeit am und mit dem Sachverhalt anschließend unter II.), geht es vornehmlich und zunächst darum, sich über die „wahre“ Aufgabenstellung zu vergewissern. Es kommt darauf an festzustellen, wie denn die „eigentliche“ Aufgabenstellung beschaffen ist. Bei diesem ersten Arbeitsgang zur Fallbearbeitung kann man gar nicht sorgfältig genug vorgehen, denn es handelt sich dabei – auch wenn das Empfinden dafür bisweilen verloren geht – um eine maßgebliche, wenn nicht sogar entscheidende Weichenstellung für die spätere Falllösung. Das mag dramatisch und übertrieben klingen; die Erfahrung lehrt jedoch, dass eine beachtliche Zahl juristischer Hausarbeiten und Klausuren schon deshalb nicht wie erhofft und erwartet bewertet werden kann, weil sie bereits die Aufgabenstellung (vollständig oder auch nur teilweise) verfehlt.
42Die Gründe für das Verfehlen oder Verkennen der Aufgabenstellung sind so zahlreich und so vielfältig, dass sie sich einer auch nur annähernd abschließenden Aufzählung und Benennung entziehen. Sie können im individuell-persönlichen Bereich des jeweiligen Hausarbeits- und Klausurverfassers liegen, können aus objektiv bestehendem oder subjektiv erlebtem Zeitdruck verbunden mit Stressoren der Prüfungssituation resultieren, und sie können sich aus der textlichen Abfassung von Sachverhalt nebst Aufgabenstellung etc. ergeben.
43 a) Fehlerquellen.Gleichwohl lassen sich zumindest zweihäufig vorkommende Fehlerquellenbei der Auswertung von Aufgabenstellungen beschreiben. Zum einen führt die flüchtige Erstbefassung mit dem ausgegebenen Sachverhaltstext oftmals dazu, sich schon vor Kenntnisnahme von der tatsächlichen Aufgabenstellung wie von selbst – quasi intuitiv – mit durchaus denkbaren (Fall)Fragen auseinander zu setzen. Damit wächst die Gefahr, dass sich das, was man sich als „ad hoc-erfasste“ Aufgabenstellung vorgestellt hat, gedanklich als (vermeintlich) tatsächlich gestellte Aufgabe festsetzt. Die Folge ist zumeist, dass die tatsächlich gestellte Aufgabe nicht mehr unvoreingenommen und mit der nötigen Distanz zum Sachverhalt zur Kenntnis genommen werden kann. Das wiederum kann zu manchmal nur sehr schwer korrigierbaren Missverständnissen und interpretativen Verzerrungen bei der Wahrnehmung des „wirklichen“ Aufgabentextes führen. Sogar „erfahrene“ Hausarbeits- und Klausurverfasser bestätigen immer wieder, dass ihnen derartige Fehldeutungen der „wahren“ Aufgabenstellung unterlaufen, und sie diese falsche „Weichenstellung“ erst viel später (nicht selten: zu spät) im Zuge der weiteren Fallbearbeitung bemerken. Mit der dann fälligen Umstellung und inhaltlichen Abänderung im Ablauf der Fallbearbeitung geht wertvolle Zeit verloren, die entstehende Zeitnot selbst ist weiterer Quellgrund für noch mehr Bearbeitungsfehler. Wer also den Sachverhaltstext einer Hausarbeit oder Klausur in aufgeregter Neugier „diagonal“ überliest (und wer verhält sich in der Prüfungssituation einer juristischen Hausarbeit oder Klausur anders?), tut gut daran, sich vor Befassung mit der tatsächlich gestellten Aufgabe ganz bewusst und diszipliniert von den Vorprägungen des überflogenen Sachverhaltstextes zu distanzieren, um die „wahre“ Aufgabenstellung unverfälscht erkennen zu können.
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