73Bei alledem ist noch einmal zu betonen, dass eine sachgerechte Erarbeitung genügend genauer Fallfragen einen soliden Grundstock an verfügbaren Rechtskenntnissen und die – durchaus trainierbaren – Fähigkeiten voraussetzt, den wechselbezüglichen Sachzusammenhang zwischen Sachverhaltsschilderung und Fallfrage(n) zu erspüren und rechtlich zutreffend zu erfassen. Jedenfalls darin unterscheidet sich die Fallfragenproblematik in öffentlich-rechtlichen Klausuren und Hausarbeiten in nichts von der in strafrechtlichen und zivilrechtlichen Hausarbeiten und Klausuren.
II.Die Arbeit am und mit dem Sachverhalt
74Noch einmal: Zuallererst bestimmt das sachrichtige Verstehendes zu bearbeitenden Rechtsfalls und damit das korrekte Verständnis des wechselbezüglichen Zusammenhangs zwischen konkretem Lebenssachverhalt und zugehöriger Aufgabenstellung die Qualität der juristischen Fallbearbeitung. Außer auf die sachgerechte Auswertung der Aufgabenstellung mit der dazu notwendigen Ermittlung und Erarbeitung der maßgeblichen, konkreten Fallfrage(n) kommt es daher und nicht minder gewichtig darauf an, den Sachverhalt zutreffend zu erfassen. Ohne detaillierte und vollständige Kenntnis der im Sachverhalt geschilderten Vorgänge, Zustände, Ereignisse, Verhaltensweisen und Eigenschaften von Personen etc. misslingt nicht nur die Auswertung der Aufgabenstellung und das Herausfiltern und Erarbeiten der „richtungweisenden“ konkreten Fallfrage(n). Vielmehr führt eine unzureichende Arbeit am und mit dem Sachverhalt fast zwangsläufig auch dazu, dass das „A und O“ der Fallbearbeitung, die Subsumtion(vgl. dazu Erster Teil, C. III.) fehlerhaft durchgeführt wird oder sogar gänzlich „daneben geht“.
1.Sachverhalt mehrmals und genau lesen
75Der im Rahmen einer juristischen Hausarbeit oder Klausur unter dem Blickwinkel der dazugehörigen Aufgabenstellung zu bearbeitende Sachverhaltversteht sich – darauf ist während der gesamten Fallbearbeitung immer wieder Acht zu geben – als konkreter Lebenssachverhalt, mit anderen Worten: als die sprachlich umgesetzte Wiedergabe eines – wenn auch kleinen – Ausschnitts aus der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit. Das ist allerdings nur die eine Seite der Genese juristischer (!) Sachverhalte. Ein anderer, für das Verstehen von Sachverhalten in juristischen Hausarbeiten und Klausuren mindestens ebenso wichtiger Aspekt resultiert daraus, dass der Sachverhalt für den Aufgabensteller ähnlich wie die Aufgabenstellung mit ihrem Kernstück, der(n) konkreten Fallfrage(n), ein Steuerungsinstrumentzur Bestimmung und Begrenzung dessen darstellt, was nach Inhalt und Umfang von der Fallbearbeitung erwartet wird. Der Sachverhalt ist daher nicht lediglich konkreter Lebenssachverhalt, sondern er ist zugleich das Medium, mit dem der Aufgabensteller rechtliche Fragestellungen kommuniziert und an den Fallbearbeiter heranträgt.
76Insbesondere mit dieser „Steuerungsfunktion“ des Sachverhalts verbindet sich manche Unsicherheit und Unwägbarkeit bei der Arbeit am und mit dem Sachverhalt; denn was als Sachverhalt der(n) Fallfrage(n) vorangestellt ist, verdankt seine Entstehung viel zu oft nicht der „wahren“ Realität einzelmenschlicher oder gesellschaftlicher Lebensvorgänge und -verhältnisse, sondern umgekehrt rechtlichen Problemkonstellationen, deren zugehörige Lebenswirklichkeit in Form einer knappen Aufzählung nur der unbedingt notwendigen Fakten geschildert wird. Nicht selten sind es aus zwei oder drei BGH-Entscheidungen, den Entscheidungen anderer Gerichte, oder der Lehrbuch- und Kommentarliteratur entnommene rechtliche Problemlagen, die – bisweilen mehr schlecht als recht „kompositorisch“ zusammengefügt – qua Schilderung der maßgeblichen (Rechts-)Tatsachen einen Sachverhalt produzieren, der zwar Lebenswirklichkeit vorgibt, im Grunde aber wirklichkeitsfremd ist.
77Nicht wesentlich anders verhält es sich mit Sachverhalten, die zwar von Personen, Vorgängen, Zuständen des wirklichen Lebens initiiert werden, jedoch in ihrem Tatsachenstoff auf das zur (gewünschten) Erörterung bestimmter rechtlicher Fragestellungen „zwingend“ Erforderliche reduziert sind. Es liegt auf der Hand, dass dem Aufgabensteller bei der Abfassung von Sachverhalten (mangels so gut wie ausgeschlossener Unfehlbarkeit) immer wieder einmal Nachlässigkeiten und sonstige Unzulänglichkeiten unterlaufen können, die – etwa weil zu wenige Tatsachen geschildert sind, sich falsche Zahlenwerte einschleichen oder dem Gebrauch bestimmter sprachlicher Wendungen eine eigene Wortdeutung unterlegt ist – den zu bearbeitenden Sachverhalt in sich unstimmig erscheinen lassen. Diese Abhängigkeit des Sachverhalts von individuellen, auf die Person des jeweiligen Aufgabenstellers zugeschnittenen Entstehungsmodalitäten birgt die Gefahr von Missverständnissen und Fehldeutungen des Sachverhalts durch den Fallbearbeiter.
78Dem entgegenzuwirken (ausschließen lässt sich das Risiko von Fehldeutungen etc. nie) setzt zu Beginn der Arbeit am und mit dem Sachverhaltvoraus, ihn mehrmals konzentriertzu lesen. Mehrmaliges konzentriertes Lesen des Sachverhalts zielt darauf ab, sich den geschilderten Tatsachenstoff, ebenso wie möglicherweise erläuternd beschriebene rechtliche Gegebenheiten und Zusammenhänge, fest einzuprägen, und zwar so, dass im Wege sorgfältigen Durchlesens und Durcharbeitens eine sichere Kenntnis des Sachverhalts bis ins kleinste Detailgewonnen wird. Es bei dem schon erwähnten neugierigen „diagonalen“ Überfliegen des Sachverhalts zu belassen, genügt deshalb in keinem Fall.
79Das gilt insbesondere für die Fallbearbeitung im Rahmen einer Klausur. Gewiss ist es verlockend, sich angesichts knapper Zeitressourcen bei der Klausurbearbeitung in gewagter Überschätzung der eigenen Auffassungsfähigkeiten schon während des ersten (!) Durchlesens des Sachverhalts in die – wie sich nach mehrfachem Lesen des Sachverhalts häufig herausstellt: nur vermeintlichen – Rechtsprobleme des geschilderten Lebenssachverhalts hineinzudenken. Die Gefahr ist groß, dass man sich dann von der mehr intuitiv im ersten Zugriff gelenkten Problemdeutung und -erkenntnis innerlich nur schwer lösen kann und dann alles im Lichte dieser Problemerfassung versteht. Das kann fatale Folgen haben, wenn die so „schnellschüssig“ identifizierte Fallproblematik in der Sache ein Fehlgriff war. Es kommt deshalb darauf an, sich auch im Rahmen einer Klausur zu disziplinieren und den Sachverhalt möglichst noch „problemdistanziert“ und unbefangen mehrfach Wort für Wort durchzulesen; denn nur eine detailgetreue Kenntnis des Sachverhalts gewährleistet später eine zutreffende Fallbearbeitung. Wer bei der Erfassung des Sachverhalts auf Zeitersparnis setzt, erweist sich und seiner Fallbearbeitung einen von vornherein unnötigen „Bärendienst“ (vgl. dazu auch Mann , Arbeitstechnik, Rn. 155 f., 157; Möllers , Arbeitstechnik, § 2 Rn. 4 mit Rn. 7).
2.Sachverhalt vollständig erfassen
80Mit der detailgenauen Kenntnis des Sachverhalts geht – hoffentlich (!) – die vollständige Erfassungdes Sachverhalts (vgl. dazu Möllers , Arbeitstechnik, § 2 Rn. 7) einher; denn auch darum geht es bei der Arbeit am und mit dem Sachverhalt: um die Vollständigkeit deraus dem Sachverhalt herauszulesenden Informationen. Da es sich bei den in Klausuren oder Hausarbeiten zu bearbeitenden Sachverhalten wie bereits gesagt um Schilderungen eigens für Prüfungszwecke aufbereiteter Problemlagen, in der Regel also um sog. „Kathederfälle“ handelt (vgl. auch Mann , Arbeitstechnik, Rn. 155 ff.), soll man davon ausgehen, dass jedes Wort des Sachverhaltstextes im Gesamtzusammenhang des geschilderten „Falles“ seine rechtserhebliche und dementsprechend „lösungsindizierende“ Bedeutung hat. Umgekehrt ist kein Wort, kein Nebensatz, keine Parenthese, kein Einschub etc. unwichtig (vgl. etwa auch Möllers , Arbeitstechnik, § 2 Rn. 7).
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