Der erste Blick aus dem Fenster um sechs Uhr am Freitagmorgen zeigte mir, dass sich nichts verändert hatte. Nach dem Frühstück (Reis mit Linsen) folgte der zur Routine gewordene Gang zum Kontrollturm, in dem uns der Oberkapo eröffnete, dass Kathmandu Aufhellungen im Verlauf des Tages gemeldet hätte. Seine Assistenten lächelten uns zu, als hätten wir in der spanischen Lotterie den Hauptgewinn gezogen.
Der Vormittag verging mit Nieselregen, Kaffeetrinken und meiner Gruppe zulächeln (Aufhellungen …), aber nach dem Mittagessen (Reis mit Linsen) begann sich auch meine Zuversicht zu verflüchtigen. Denn nach Lukla gab es damals nur am Vormittag Flüge, und nun blieben nur noch wenige Stunden bis zur Dunkelheit (in Nepal dunkelt es im Herbst schon um sechs Uhr abends).
Gegen vierzehn Uhr hörte es plötzlich auf zu regnen, und die Nebel lichteten sich. Vereinzelt grasten wieder Yaks auf den schmalen Streifen von Grün zwischen den Schlaglöchern des Rollfeldes, und Kinder tollten im Gatsch herum. Eine Stunde später ging die Flughafensirene. Alles war in heller Aufregung und starrte angestrengt talauswärts, dorthin, wo das Flugzeug auftauchen musste. Ein Polizist rannte, aufgeregt auf seiner Trillerpfeife blasend, auf das Rollfeld und verjagte die Yaks und die Kinder. Dann legte sich wieder Stille über den Flughafen. So verging etwa eine halbe Stunde. Plötzlich rief einer unserer Sherpas: „Airplane, Airplane“ und deutete aufgeregt talauswärts. Tatsächlich, über dem Thaksindo-Pass schwebte eine Twin Otter heran, drehte in unsere Richtung ab und arbeitete sich zwischen den Nebelfetzen das schluchtartige Tal herein. Auf Höhe von Lukla drosselte sie die Motoren, drehte in Richtung des Flugfeldes, machte einen Moment den Eindruck, als würde sie in der Luft stehenbleiben und sich das Ganze noch einmal überlegen, sank dann schnell und setzte am untersten Rand der Piste auf. Sofort fing sie an abzubremsen und unter dem Geheul der Motoren schaukelte und schleuderte sie bis zu uns herauf und kam unbeschädigt zum Stehen. Gebannt hatten wir bei dem Manöver zugesehen und dabei gar nicht mitbekommen, dass noch eine zweite Maschine im Anflug war, die ebenso landete und sich neben der ersten Maschine auf dem kleinen Platz vor dem Flughafengebäude einreihte. Die Reifen der Maschinen hatten tiefe Spuren auf dem Rollfeld hinterlassen.
In der Annahme, dass wir die Nächsten seien, die an der Reihe wären, näherten wir uns der ersten Maschine, deren Propeller gerade zum Stillstand gekommen waren. Unsere Sherpas waren schon dabei, das Gepäck heranzuschleppen, als mich der Pilot fragte, ob wir die italienische Gruppe seien. Hätte ich doch ja gesagt! Aber so blieb ich bei der Wahrheit und entgegnete: „Nein, wir sind die Österreicher.“
Ja, dann, sagte der Pilot, seien wir erst beim nächsten Flug dabei, denn dieser sei für die Italiener reserviert. (Unsere südlichen Nachbarn, so dachte ich mir in diesem Moment, hatten wohl einen ziemlichen Packen Dollars unter dem Holztisch hinüberwandern lassen, auf dass der Oberkapo den Radiergummi an der richtigen Stelle ansetzt …). Aber wir hatten ja noch das zweite Flugzeug, also war die Sache nicht weiter schlimm. Doch während der Stationsmanager des Flughafens die italienische Expeditionsmannschaft zur Gangway der ersten Twin Otter hineintrieb, die Piloten die Motoren wieder starteten, und die Nebel am Ende der Rollbahn, dort wo sie ins Dudh-Kosi-Tal mit einer Klippe abbricht, in beängstigender Schnelligkeit abermals stiegen – was tat da die Besatzung unseres Flugzeugs?
Sie stiegen seelenruhig aus dem Flugzeug, streckten die Rücken und reckten die Arme, als wandelten sie unter einem wolkenlosen Himmel, und wandten sich dann Dawas Himalaya Lodge zu. Als das Flugzeug mit den Italienern am obersten Ende der Rollbahn stand, mit festgezogenen Bremsen, und die Piloten die Motoren zur höchsten Umdrehung aufheulen ließen und dann die Bremsen lösten, um schaukelnd und schleudernd die aufgeweichte Piste hinunterzudonnern, waren unsere eigenen Eisheiligen bereits in der Tür von Dawas Lodge verschwunden. Ich sah der Italienermaschine nach, wie sie langsam dem Thaksindo-Pass zuschwebte, um gleich dahinter in einer Wolkenbank zu verschwinden, während eine weitere, wesentlich bedrohlichere Wolkenbank in spätestens einer halben Stunde das Ende der Rollbahn verschlucken würde. Ich spürte das unwiderstehliche Verlangen, den Oberkapo aufzusuchen und ihm seinen Radiergummi zum Essen zu geben und gleich anschließend unsere Eisheiligen bei den Ohren ins Cockpit zu hieven.
Beim kurzen Anstieg zu Dawas Lodge beruhigte ich mich wieder etwas. Es blieb ja noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Nebel wieder alles verschlungen hätten.
Als ich die Lodge betrat, saß die Crew im Extrazimmer. Dawa, der Hotelbesitzer, den ich schon immer eines gewissen Opportunismus verdächtigt hatte, ließ ihnen gerade einen Imbiss servieren: Tee, Kekse, frischen Toast. Dawa musste heimlich gehortet haben, oder wenigstens rationiert, denn hier saßen sie nun, die beiden Piloten und die Stewardess und der Oberkapo und die lokalen Servicekräfte von Royal Nepal Always Cancelled , und mampften und tranken und lachten und ließen es sich schmecken.
Ich sammelte all meinen in den vorherigen Wochen gesammelten asiatischen Gleichmut und räusperte mich vernehmlich: „Die Nebel steigen“, sagte ich. „Und zwar schnell.“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte der Pilot. „Wir werden fliegen!“
„Wann?“
„Heute. Wir nehmen hier nur noch einen kleinen Imbiss zu uns!“
„In einer halben Stunde werden wir die Hand vor den Augen nicht mehr sehen!“
„Wir werden fliegen!“, widersprach er.
Ich überlegte. Ich war hier zweifelsfrei in einen Zirkel von Wahnsinnigen gelangt. Um einen Wahnsinnigen zu verstehen, sagte ich mir, musste man sich in das Innerste des Wahnsinns begeben, dort, wo keine Zirkulation mehr bestand. Wie in einem Taifun.
„Tss, tss, das bisschen Nebel“, sagte ich deshalb, „und das bisschen Regen. Das macht uns doch eigentlich gar nichts aus.“ Ich lächelte zuerst den Captain, dann den Oberkapo an.
„So ist es“, sagten sie fast zugleich und lächelten zurück.
„Wir werden fliegen. Heute noch. Sie können sicher sein. Hundertprozentig.“
Ich verließ den Gastraum, und sie wandten sich wieder ihrem Imbiss zu. Während ich überlegte, was ich meiner aufgebrachten Gruppe als Trost mitteilen sollte, hörte ich schon das vertraute Trommeln des wieder stärker werdenden Regens auf den Blechdächern. Das Ende der Landepiste war schon nicht mehr zu sehen, und die Nebel waren noch immer im Steigen. Es war vier Uhr nachmittags.
In der Unterkunft angekommen, versuchte ich meine Gruppe zu vertrösten (beim ersten Aufhellen, und sonst morgen früh … usw. usf.). Dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie die Crew die Lodge verließ und das Flugzeug ansteuerte. Für einen kurzen Moment tat mein Herz einen hoffnungsvollen Hüpfer, aber nein, knapp vor dem Betreten des Flugfeldes schwenkten sie gemeinsam nach links ab und steuerten die Sherpa Coop Lodge an. Das verhieß nichts Gutes. Ich ließ in meiner Unterkunft noch etwa eine halbe Stunde alle möglichen Drohungen inklusive Regressforderungen über mich ergehen, wartete das vertraute und überaus tröstliche „Meine Mission ist erfüllt!“ ab und suchte dann umgehend mein Zimmer auf. Hier halfen nur mehr drastische Maßnahmen.
Ich entnahm der Deckeltasche meines Rucksacks ein handliches Päckchen Dollarscheine. Dies waren ungefähr zwei Monatslöhne eines Captains. Was die Italiener konnten, das sollte ich doch auch können. Entschlossen machte ich mich zur Sherpa Coop Lodge auf.
Inzwischen war etwa eine Stunde vergangen.
Das Innere der Sherpa Coop Lodge bestand in der Hauptsache aus einem großen Raum mit einem offenen Kamin. Draußen war es noch nicht dunkel, aber man hatte schon ein Feuer entzündet, und davor saßen nun meine Eisheiligen und wärmten sich die Hände. Eine zusätzliche Wärmequelle war der Whisky, der auf dem kleinen Tischchen stand. Freudig musste sich der Captain davon genehmigt haben, denn die Flasche Johnnie Walker Red Label war schon halb leer. Nur der Co-Pilot saß bescheiden daneben und nippte an seinem Tee.
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