Als Simon in der nächsten Unterrichtsstunde – Musik – durch die Klasse spazierte, um etwas in den Mülleimer zu werfen, erblickte er im Vorbeigehen ein Kuscheltier in Leons Schulranzen. Einen Frosch aus Stoff, der ein rotes Band um den Hals gebunden hatte. War Leon noch ein kleines Baby? Der Frosch steckte so im Ranzen, dass ihn eigentlich niemand sehen sollte. Aber Simon hatte ihn gesehen. Langsam bewegte er sich auf Leon zu, zog mit einem Griff den Frosch an seinem Halsband heraus und hielt ihn für alle sichtbar in die Luft: »Oh, was haben wir denn da? Einen Frosch, quak, quak!«
Alle drehten sich um und lachten. »Gib ihn her«, bat Leon und hatte schon wieder etwas Weinerliches in der Stimme.
»Sag lieb ›bitte, bitte‹ zu Onkel Simon«, grinste Simon.
Da passierte etwas Merkwürdiges. Leon verlor plötzlich seinen weinerlichen Blick. Er stand von seinem Platz auf, stellte sich direkt vor Simon auf und sagte: »Simon, denk dran. Du willst das Böse nicht tun. Du kannst dich noch bremsen.«
Mit allem hätte Simon gerechnet, aber mit so einem Anflug von Selbstbewusstsein von dem Trottel Leon nicht. Fast hätte er den Frosch fallen lassen, aber er ließ sich nichts anmerken: »Was ist los? Bist du unter die Psychiater gegangen?«
»Simon. Ich weiß, du erinnerst dich nicht. Aber ich erinnere mich. Und ich weiß, dass du das Böse eigentlich nicht tun willst.«
»Was laberst du für einen Müll?« Simon grinste. »Ich bin das Böse! Und natürlich will ich das Böse tun!«
Leon redete leiser, aber eindringlich: »Nein, Simon. Du bist das Opfer.«
Das war zu viel. »Was?«, plärrte Simon durch den ganzen Klassenraum, sodass selbst Frau Lenz, die Musiklehrerin, aufhörte, mit den Schülern der ersten Reihe Unterricht zu machen. »Ich bin das Opfer?! Das wollen wir ja mal sehen!« Er packte den Frosch an einem Bein, ließ ihn wie ein Lasso über seinem Kopf kreisen und schleuderte ihn dann quer durch den Klassenraum, sodass er neben der Tafel im Waschbecken landete. »Hol ihn dir, du Opfer!«
»Simon«, sagte Frau Lenz so streng, wie es einer überforderten Musiklehrerin möglich war, »lass deine Stofftiere zu Hause.«
»Es ist nicht meins«, rief Simon durch die Klasse. »Es ist der Quakfrosch vom Froschgesicht Leon!«
Unter dem Gelächter der halben Klasse trabte Leon nach vorne und fischte seinen Frosch aus dem Waschbecken.
Am Mittag nach der Schule stand Simon mit einer kleinen Gruppe Jungs vor dem Haupteingang und beobachtete die Mädchen, die rauskamen. Einigen, die gut aussahen, pfiffen sie hinterher. Anderen, die nicht gut aussahen, riefen sie Beleidigungen zu. Da kam Nadja mit ihrer Freundin Steffi raus. Konstantin pfiff ihr hinterher, aber Simon brachte keinen Ton raus. Er bemühte sich, nicht rot zu werden, und nahm sich vor, endlich mal einen Vorstoß in Richtung Nadja zu wagen. Er gab sich einen Ruck und ging auf sie zu. »Na, was machst du heute Nachmittag?«, fragte er so lässig wie möglich.
»Lernen«, antwortete Nadja, ohne stehen zu bleiben.
Simon hielt mit ihr Schritt. »Und morgen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Lust, was zu unternehmen?«
Nadja blieb nicht stehen, aber sie drehte ihren Kopf so Simon zu, dass ihre Haare kurz ihren Blick freigaben. Simon musste sich zwingen ruhig zu bleiben, um keine weichen Knie zu bekommen. »Was denn?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Schlag du was vor.«
Nadja ging langsamer. Sie schaute zu Steffi auf der anderen Seite und drückte ihre Schultasche noch etwas fester unter ihren Arm. »Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
»Donnerstag?«, versuchte es Simon weiter.
Nadja überlegte kurz, dann lächelte sie auf geheimnisvolle Weise. »Donnerstag kannst du kommen.«
Wieder musste Simon sich zurückhalten, um nicht auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen oder einen Purzelbaum zu schlagen. So normal wie möglich sagte er: »Echt? Zu dir?«
»Donnerstagabend bin ich im Teentreff. Da können alle hinkommen.«
Ach so. Seine Aufregung legte sich direkt wieder. Eine Veranstaltung. Aber immerhin. Sie ging hin, also könnte er auch hingehen. »Teentreff? Was ist das?«
»Ein Treffen für Teens. Wir singen, wir reden über die Bibel, wir machen noch andere Sachen. Manchmal gehen wir kegeln, manchmal schauen wir einen Film oder wir sitzen einfach da und unterhalten uns.«
Die zweite Hälfte von dem, was Nadja gerade gesagt hatte, bekam Simon schon gar nicht mehr mit. Er hatte nur »singen« und »Bibel« gehört, da war ihm schon schwarz vor Augen geworden. Singen??? Welcher normale Mensch unter fünfzig traf sich zum Singen??? Und Bibel?? Simon hatte im Reli-Unterricht schon mal in einer Bibel lesen müssen, und zwar unter Aufsicht eines Pfarrers, der zwischen 100 und 200 Jahren alt war. »Die Bibel ist in heutigem Deutsch«, hatte er stolz angekündigt, bevor er sie ausgeteilt hatte. Aber was er dann gelesen hatte, klang trotzdem nicht viel »heutiger« und »deutscher« als Lessing oder Goethe. Alles alt, überzogen, moralisch und vor allem langweilig. So wie der glatzköpfige Pfarrer, der das alles »sehr interessant« fand. War ja auch logisch, denn Pfarrer mussten das ja interessant finden, immerhin war es ihr Beruf. So wie die Klofrau ihre Klos interessant finden musste und die Erzieherin ihre Kindergartenkinder. Aber Nadja??? Wollte sie Pfarrerin werden? Für einen Augenblick wollte er schon stehen bleiben und Nadja ihrem Schicksal überlassen. Aber dann siegte doch der Eroberungsdrang. Simon war ein Eroberer und so schnell wollte er Nadja nicht aufgeben. Vielleicht könnte er sie ja aus den Klauen der Singe-und-Bibel-Teens befreien.
Nadja bemerkte den irritierten Blick von Simon, denn er hatte nun bereits länger als drei Sekunden nichts mehr gesagt. »Schockt dich das?«, fragte sie.
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, tönte Simon laut. »Ich meine … ich muss zugeben, dass ich dich nicht so auf Anhieb mit … ähm … Bibel und so … in Verbindung gebracht hätte, aber … ich find’s cool, echt. Bibel kann doch auch … also … sehr interessant sein … besonders, wenn sie … ähm … im heutigen Deutsch ist …«
»Gib dir keine Mühe«, sagte Nadja, grinste und schaute ihn mit ihrem typischen Augenaufschlag an, der ihn zum Zittern brachte, »ich weiß doch, wie du über die Bibel denkst.«
»Ach so. Na ja. Also, nee, ich meine … man kann ja auch dazulernen.«
»Also, wenn du willst, dann komm doch einfach. Ich würde mich freuen.« Nadja und Steffi waren bei ihren Fahrrädern angekommen, öffneten ihre Schlösser und packten die Taschen in den Fahrradkorb.
Nadja würde sich freuen! Simon hatte das Gefühl, einen Kopf wie Erdbeereis zu bekommen. Aber er tat weiterhin gelassen: »Ja, gut. Ich überleg’s mir.«
Nadja lächelte ihn kurz an, und zwar so, dass sich Simon schon beinahe sicher war, Donnerstagabend kämen sie zusammen. Dann schwang sie sich aufs Fahrrad und fuhr mit Steffi davon.
Die nächsten Tage waren erstaunlicherweise so normal wie immer. Kein Verfolger, kein Traum, keine falschen Verdächtigungen. Sollte der Spuk endlich vorbei sein?
Am Donnerstagabend warf sich Simon in Schale und machte sich auf den Weg in Richtung Teentreff. Er hatte Jan so lange bequatscht, bis der sich hatte breitschlagen lassen mitzukommen. Allein wäre Simon da nie im Leben hingegangen. Allein unter Bibellesern – das wär ja schon ein super Titel für einen Horrorfilm.
Außer Nadja und Steffi waren noch etwa sechs andere Mädchen da, die Simon höchstens vom Sehen kannte. Brav, unauffällig, belanglos. Manche sogar mit Haarspange, als kämen sie aus einem amerikanischen Fünfziger-Jahre-Film. Außerdem drei Jungs, die Simon noch nie gesehen hatte. Der eine von ihnen hatte jetzt schon – mit höchstens 15 – eine Frisur wie ein Pfarrer: viel zu lange, lockige Haare, die wild in alle Richtungen abstanden, und dazu einen Rollkragenpullover. Die zwei anderen sahen ganz normal aus. Viel zu normal für so einen Bibelkreis. Bestimmt waren sie totale Versager, sonst würden sie doch nicht in so eine Bibellesegruppe gehen!
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