Wie jeden Morgen saß seine Mutter am Esstisch mit einer Kaffeetasse in der Hand vor ihren eigenen geschmierten Broten und wartete mit dem Essen, bis Simon in die Küche kam. Dann hatte sie immer den »Willst du denn gar nicht mehr mit mir zusammen frühstücken?«-Blick drauf, sagte aber nie etwas dazu. Und weil sie nichts sagte, brauchte Simon auch nicht zu antworten. Er verzichtete aber darauf, ihr durch einen allzu freundlichen Blick Hoffnung darauf zu machen, dass er jemals wieder wie zu Kindergartenzeiten gemeinsam mit ihr frühstücken würde. Zeitgleich mit Simons erstem Biss in sein Brot biss auch die Mutter in ihr Brot. Das schien ihr das Gefühl zu geben, die beiden würden doch noch zusammen frühstücken. Das müsste echt mal einer erforschen, was da in so einem verdrehten Mutterkopf alles vor sich ging. Für normale Menschen kaum nachvollziehbar. Als die Mutter das zweite Mal in ihr Brot biss, hatte Simon bereits das komplette Frühstück in den Mund geschoben, gekaut und runtergeschluckt.
»Geht’s dir wieder besser?«, fragte sie besorgt.
Simon hatte sich die Schultasche um die Schulter geworfen und war schon bei der Tür. Aber dann drehte er sich doch noch mal um und fragte vorsichtig: »Wieso?«
»Na ja, ich meine nur. Weil du gestern so … so komisch warst. So aufgeregt und durcheinander.«
Woher wusste sie das denn? Hatte sie etwa was mitgekriegt? Nur weil er kurz im Wohnzimmer nachgeschaut hatte, ob sie noch lebten? Hallo? »Es ist alles in Ordnung«, sagte er knapp.
»Ja, das hast du gestern auch gesagt«, sagte die Mutter und hatte ihren besorgten »Du-hast-doch-was-mein-Kind«-Blick aufgelegt.
»Echt? Hab ich das?« Wann sollte er das gesagt haben? Manchmal hörten Mütter auch Sachen, die sie gerne hören wollten, die aber nie jemand gesagt hatte.
»Alles in Ordnung«, sagte er noch mal.
»Und mit wem hast du da so laut geredet?«, fragte sie dann noch.
Jetzt stockte Simon erst recht. »Geredet? Mit wem denn?«
»Das weiß ich ja nicht. Es klang so, als hättest du dich mit jemandem gestritten.«
Simon schluckte. Jetzt wurde die Sache langsam unheimlich und er wollte das hier lieber nicht vertiefen. »Ich glaub, ich hab im Schlaf gesprochen. Nix Schlimmes.« Und damit ging er zur Küche hinaus und ließ die Mutter mit ihrem Brot dort sitzen.
Kurz nachdem er an der Bushaltestelle angekommen war, kam auch sein Kumpel Jan dazu.
»Du hast dich aber beeilt«, sagte Jan zur Begrüßung.
»Beeilt? Wieso?«
»Na ja, dass du so schnell deine Schultasche geholt und was Sauberes angezogen hast.«
Was sollte denn der Mist jetzt? Machte er sich über ihn lustig? War er sonst zu langsam und zu dreckig? Gefielen ihm seine Klamotten nicht?
»Guck dich doch selber mal an«, brummte er nur.
»Halt’s Maul«, gab Jan zurück. Damit war ihre Unterhaltung vorerst beendet.
Der Bus kam. Während Simon einstieg, sah er, dass von weit hinten noch jemand angerannt kam. Der würde den Bus sicher nicht mehr kriegen. So ein Idiot. Früher aufstehen, konnte man da nur sagen. Simon und die anderen wurden im Gang des Busses nach hinten gequetscht. Der Bus rollte an. Durch das Fenster konnte Simon sehen, wie der Typ, der den Bus noch kriegen wollte, wie ein Verrückter rannte. Fast war er auf Höhe des Busses, aber zum Mitfahren war es leider zu spät. Einen kurzen Augenblick schaute er von draußen in den Bus hinein und traf dabei zwischen all den Fahrgästen zielsicher Simons Blick. Im nächsten Moment wurden Simons Knie weich und er musste sich an den benachbarten Sitzen festhalten. Da draußen war der Typ aus seinem Traum gelaufen! Er selbst! Sein Gegenüber, sein anderes Ich!
»Da!«, entfuhr es ihm. »Jan, hast du den gesehen, der da neben dem Bus hergelaufen ist?«
»Nein.«
»Mist!« Simon bekam Schweißausbrüche. Verfolgte ihn etwa sein eigener Schatten?
Jan schien sich über nichts zu wundern oder er war noch sauer wegen der Bemerkung vorhin. Er schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Simon hielt sein Handy in die Höhe, um ein Foto von dem Typ da draußen zu machen. Aber dafür war der Bus schon zu weit weg.
In der Schule lief eigentlich alles ganz normal. Hin und wieder blickte sich Simon in alle Richtungen um, ob seine Geistererscheinung noch mal zu sehen war. Aber sie blieb verschwunden. Simon hoffte, dass der Spuk damit ein für alle Mal ein Ende hatte.
Im Bio-Unterricht saß er so, dass er die ganze Stunde über Nadja anschauen konnte. Die war echt der Hammer. Schulterlange, blonde Haare, die ihr, wenn sie den Kopf nach vorne beugte, immer seitlich über das Auge fielen. Wenn sie dann ihren Kopf wieder nach oben richtete und mit einem Finger die Haare aus dem Gesicht strich, hatte sie dabei einen Augenaufschlag unter ihren dunklen, schmalen Augenbrauen, dass Simon jedes Mal fast verrückt wurde. Wenn sie dabei auch noch zufällig in seine Richtung sah und er in ihre dunkelblauen Augen schauen konnte, hatte Simon das Gefühl, beinahe ohnmächtig zu werden.
Die halbe Schulzeit über war sie damit beschäftigt, Zeichnungen in ihrem Collegeblock anzufertigen. Meistens mit Bleistift, manchmal mit Buntstiften. Der Blick, den sie beim Zeichnen draufhatte, hatte auch so was Umwerfendes, dass er ihr stundenlang dabei zuschauen könnte. Leider zeigte sie niemals ihre Zeichnungen. Zumindest ihm nicht. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass er sich darüber lustig machte. Dabei würde er das niemals wagen. Wenn er auch die ganze Klasse durch den Kakao ziehen würde – Nadja niemals. Einmal hatte Nadja wegen irgendwas den Klassenraum verlassen müssen und ihr Block hatte offen dagelegen. Da war Simon einfach mitten im Unterricht aufgestanden, um sich die Zeichnungen anzuschauen, die gerade auf der aufgeschlagenen Seite zu sehen waren. Und durch das, was er da gesehen hatte, wurde ihm so ein warmer Stich in die Magengrube versetzt, dass er sich gleich noch mal doppelt so viel in sie verknallt hatte. Da waren ein Pferdekopf und ein Sonnenuntergang − okay, das war kitschig − aber aus Nadjas Stift einfach traumhaft. Aber das Krasseste war die Zeichnung eines Mädchenportraits. Niemand bestimmtes, einfach ein Gesicht, dessen Augen den Betrachter direkt anschauten. Alles an diesem Gesicht war perfekt, die weichen Züge, die Lippen, die Haare – aber die Augen waren mit der größten Sorgfalt gezeichnet. Diese Augen strahlten so viel Liebe aus, dass Simon beim Anschauen das Gefühl hatte, er könnte diesem Mädchen direkt in die Seele schauen. Und als loderte in dieser Seele ein Feuer, das nach draußen dringen wollte. Wahnsinn.
Seitdem versuchte er alles, um Nadja für sich zu gewinnen. Aber sie schien sich nicht die Bohne für ihn zu interessieren und das ärgerte ihn. Denn in der Klasse gab es mindestens fünf Mädchen, die gern mit Simon zusammen wären, aber die fand er überaus langweilig. Nadja hatte etwas Geheimnisvolles. Im Gegensatz zu allen anderen hielt sie seinem Blick stand, selbst wenn er nicht nach drei Sekunden Augenkontakt wegschaute.
Eines der Geheimnisse, warum Simon ein Sieger war, lag in seiner Disziplin, die er sich selbst beigebracht hatte und in der ihn niemand schlagen konnte: im »Augenfechten«. Wenn jemand ihm frech kam oder eine dumme Bemerkung machte, dann brauchte Simon ihn nur lange, kühl und überlegen anzuschauen und zu grinsen. Nach spätestens drei bis fünf Sekunden schaute der andere woanders hin und Simon hatte die Runde gewonnen. Und der andere muckte danach meistens auch nicht mehr auf. Damit fühlte sich Simon allen in der Klasse überlegen. Auch den Lehrern. Bloß Nadja nicht. Und das machte ihn rasend. Nadja war nicht nur charakterstark und konnte wahnsinnig gut zeichnen, sie war obendrein auch noch wunderschön und schlank, aber sie zeigte ihre weibliche Figur fast nie. Meistens trug sie weite Kapuzenpullover. Die ganze Biostunde stellte er sich vor, wie sie wohl ohne den Pulli aussehen würde.
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