»Simon!«, ermahnte ihn plötzlich Herr Brandt, der Biolehrer.
Simon schreckte hoch: »Ja?«
»Träum nicht, pass lieber auf.«
»Ich hab aufgepasst.«
»Aha?« Herr Brandt verschränkte siegessicher die Arme vor der Brust und schaute Simon in die Augen: »Was waren noch gleich die Unterschiede von Prokaryoten und Eukaryoten?«
Dieser Schwachmat von einem Lehrer. Dachte wohl, jetzt hätte er ihn drangekriegt. Aber nicht mit Simon. Simon konnte träumen und zuhören gleichzeitig. Zumindest konnte er das, was er in den letzten zwei Minuten gehört hatte, ungefiltert wieder abspulen: »Die Eukaryoten haben einen Zellkern und Zellorganellen, die Prokaryoten nicht. Außerdem sind die Eukaryoten zehnmal größer als die Prokaryoten.«
»Na gut.« Mehr Lob bekam Herr Brandt nicht über die Lippen, sonst hätte er zugeben müssen, dass er mal wieder verloren hatte. 1:0 für Simon. Wie immer. Aber Simon war noch nicht fertig: »Im Gegensatz zu den Prokaryoten gibt es noch die Vollidioten. Und das sind Einzeller wie Leon.«
Die ganze Klasse lag vor Lachen unter den Tischen und kriegte sich kaum mehr ein. Leon, der Volltrottel der ganzen Klasse, lachte natürlich nicht. Er saß in der hintersten Reihe, wurde rot und schaute angestrengt vor sich auf den Tisch. Jetzt war es Simon, der die Arme vor der Brust verschränkte und siegessicher die Augenbrauen nach oben zog. 2:0 für Simon. Und jetzt die letzte Runde: Augenfechten mit dem selbstbewussten Lehrer. Ohne zu blinzeln. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – Herr Brandt grinste nicht mehr. Simon sah, wie er versuchte, noch mehr Autorität in seinen Blick zu legen. So was wie: »Wart’s nur ab, Junge. Ich sitz hier am längeren Hebel.« Aber je mehr er versuchte, streng zu schauen, umso breiter und lässiger wurde Simons Grinsen. Und das hatte eine ganz eindeutige Botschaft: »Du kannst mich mal!«
Herr Brandt hatte kapiert, dass Simon es auf ein Machtspielchen anlegte. Er hielt dem Blick nach wie vor stand und war dabei langsam bis genau vor Simons Tisch gekommen. Die anderen lachten immer noch. Brandt hob sein Kinn, bemühte sich um etwas Überlegenheit in seinem Blick und zischte leise: »Pass bloß auf, Freund.« Dann drehte er sich um und ging zur Tafel zurück. Damit hielt er sich wohl für den Gewinner. War er aber nicht. Dieses Weichei von einem Lehrer hatte verloren. 3:0 für Simon. Leider immer noch kein Sieg bei Nadja. Die kriegte man mit solchen Sprüchen und kleinen Lehrergefechten leider nicht rum. Als er zu ihr rüberschaute, war sie über ihren Collegeblock gebeugt und zeichnete irgendwas. Die Augen konnte er nicht sehen, weil ihre Haare wie ein Vorhang darüber hingen. Das schwächte den Sieg über Brandt direkt wieder ab.
In der großen Pause musste Simon irgendwas tun, um seinen Sieg über Herrn Brandt noch ein bisschen hervorzuheben. Hauptsächlich, um seinen Ärger über Nadjas Nicht-Lachen zu verdrängen. Die ganze Klasse war gerade dabei, die Räume zu wechseln. Laut grölend schlurfte er zusammen mit seinen Kumpels Benno, Konstantin und Julian von einem Gang zum anderen. Dabei erzählten sie sich Witze oder lästerten über die Lehrer und Schüler ab. Direkt vor Simon ging Leon. Er sah nicht nur aus wie ein Tollpatsch, er lief auch wie einer. Jeder Schritt so, als wären ihm die Schuhe zwei Nummern zu groß. Simon stieß Konstantin beim Gehen an und zeigte auf Leons Gangart. Konsti und die anderen kicherten und äfften Leons Gang nach. Und dann folgte Simons besonderes Kunststück: Er war super geschickt darin, anderen von hinten beim Gehen leicht, aber gezielt seitlich so gegen den Fuß zu treten, dass sie stolpern mussten und manchmal mehrere Schritte brauchten, um sich überhaupt wieder zu fangen und normal weiterlaufen zu können. »Gehfehler«, nannten sie das. Das wollte er beim Volltrottel Leon allen mal vorführen. Zack, ein leichter Tritt – und Leon stolperte so stark, dass er zuerst alles, was er vor sich in der Hand trug, in hohem Bogen von sich warf, dann mit rudernden Armen drei bis vier Stolperschritte torkelte und schließlich mit einem furchtbaren Bauchplatscher voll auf die Nase fiel. Leider hatte Simon von hinten nicht gesehen, dass Leon für Frau Dinkel, eine andere Bio-Lehrerin, ein Goldfischglas samt Fisch in der Hand trug, um es in irgendein Lehrerzimmer oder sonst wohin zu bringen. Jetzt flog das Glas quer durch den Gang, goss das Wasser samt Fisch über Frau Heidemann, die Schulsekretärin aus, die ihnen gerade mit einem Stapel Aktenordner entgegenkam, knallte auf den glatten Kachelboden und schlitterte da noch ungefähr fünfzig Meter, bis es zwischen zwei Sechstklässlern zum Stillstand kam. Zum Glück blieb es ganz. Frau Heidemann ließ vor Schrecken sämtliche Ordner fallen und begann mit hektischen Bewegungen, den Goldfisch aus ihrem überdimensionalen Ausschnitt zu befreien. Leon lag auf der Schnauze und mindestens fünf weitere Schülerinnen waren von dem vorbeizischenden Fischglas so erschrocken, dass sie hinflogen, zur Seite sprangen oder ihre Sachen fallen ließen. Je mehr die Sekretärin von oben in ihrem Ausschnitt herumfingerte, umso tiefer rutschte der Fisch. Die Frau schrie hysterisch, als würde sie gerade unter der Bluse aufgefressen. Ungefähr hundert Schüler kamen von allen Seiten angelaufen, umringten und filmten das Schauspiel, bis endlich der Fisch nach langem Schütteln unten aus der Bluse herausfiel. Einer der Lehrer, der das mitbekam, hatte schon das Fischglas aufgehoben und in irgendeinem Klassenraum mit Wasser gefüllt. Jetzt hob er den Fisch vom Boden auf und warf ihn ins Wasser. Sofort schwamm der Fisch in einem Affentempo in seinem Glas im Kreis herum, als glaubte er, je schneller er im Kreis schwamm, umso mehr würde er vor Frau Heidemann abhauen können. Dämliche Fische.
Wenig später stand Simon vor dem Schuldirektor und musste sich einen endlos langen und lauten Vortrag anhören. Aber Simon behielt die Hände in den Hosentaschen und grinste den Direktor frech und überlegen an. Du kannst mir gar nichts, du Ochse, dachte er nur. Direktoren redeten nur, weil sie sich für wichtig hielten. Aber im Grunde hatten sie keine Ahnung. Am wenigsten von Schülern.
Als Simon zurück zur Klasse kam, stand Leon vor der Tür und schaute ihn ängstlich an. Simon beugte sich beim Betreten des Klassenzimmers langsam bis zu Leons Ohr vor, flüsterte ihm leise, aber deutlich »Opfer« zu, und setzte sich in die letzte Reihe. Heute war er Gewinner auf der ganzen Linie.
Beim Mittagessen schaute seine Mutter ihn an, als käme er vom Mars. Simon wollte frech grinsen, wie ihm das bei allen Lehrern und Schülern gelang. Bei seiner Mutter gelang ihm das jedoch nicht. Wenn sie diesen Mutterblick draufhatte, könnte er einfach nur ausrasten. Da gab es nichts zu grinsen. Eine Weile versuchte er, ihren Blick zu ignorieren. Aber dann platzte es aus ihm heraus: »Was ist?«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie vorsichtig.
»Es ist alles in Ordnung«, blaffte Simon, starrte auf das Handy neben seinem Essen und überprüfte die letzten Nachrichten. »Ich will einfach meine Ruhe haben. Ist das so schwer?«
»Aber du warst heute Morgen so seltsam. Und dann heute Nacht. Dass du so spät noch so lange draußen warst.«
»Reg dich ab!« Simon war lauter geworden, als er es sich vorgenommen hatte. »Ich war nur ganz kurz draußen, ich hab was nachgeschaut. Hab ich doch gesagt.«
»Ja, aber dann hast du gesagt, wir wollen ein andermal darüber reden.«
Jetzt musste sich Simon etwas mehr konzentrieren. Das hatte er letzte Nacht gesagt? Er hatte doch kaum ein Wort mit seinen Eltern gewechselt. Er fixierte seine Mutter mit einem scharfen Blick. »Wann hab ich das gesagt?«
»Heute Nacht. Als du mich in den Arm genommen hast.«
Jetzt hätte sich Simon fast an seinem Essen verschluckt. »Als ich WAS gemacht hab?!«
»Als du mich in den Arm genommen hast. Gestern Nacht. Als du völlig durchnässt wieder reingekommen bist.«
Читать дальше