Geduldig wartete ich auf ein Wunder, so geduldig, wie ich es den Rest meines Lebens tun würde. Ich wartete darauf, dass mich jemand rettete und mir die Lösung auf dem Silbertablett servierte. Irgendwann fand ich, dass es Zeit für einen Kompromiss war. Ich stand auf und suchte das Schlachtfeld nach einer Apfelleiche ab, die einigermaßen intakt aussah, so als würde sie höchstens leichten Durchfall verursachen. Als ich meine Beute aufhob, spürte ich, dass die verborgene Seite matschig war. Meine Finger glitten über die klebrige braune Haut und drangen tief in die überreife Feuchte ein. Ich schloss die Augen und biss sehnsüchtig in den Apfel. Süßer Saft rann mir über die Zunge, und ich sog ihn mit lautem Schlürfen ein, woraufhin die Frucht an meinen Lippen kleben blieb.
Als ich den Bissen gerade herunterschlucken wollte, spürte ich an meinen Lippen einen Wurm, ungefähr so groß wie der kleine Finger eines Babys. Er versuchte verzweifelt, sich zu retten, indem er in das nächstbeste warme Loch kroch: meinen Mund. Hastig spuckte ich mehrmals aus, wischte mir wütend über den Mund und rieb mir die Zunge mit dem Ärmel meines Pullovers ab. Vorher hatte ich allerdings noch auf den Wurm gebissen und die Bitterkeit seines gallertartigen Körpers geschmeckt. Apfelwürmer schmecken nach Eiter. Keine Ahnung, wie andere Würmer schmecken, aber Apfelwürmer schmecken nach Eiter.
Meine Eltern brauchten zu lang.
Bei unserer Ankunft hatte ein Junge mit blauen Augen auf dem Bürgersteig gesessen und Prophezeiungen des Dichters Hafis verkauft. Er hatte einen gelbgrünen Sittich dabei, der auf einem Stapel aus verschiedenfarbigen, zu kleinen Umschlägen gefalteten Blättern thronte. Auf jedem Blatt stand ein fal , ein Gedicht, das den Erfolg oder das Scheitern deiner niya , deiner Absicht, vorhersagte. Es war Aufgabe des Sittichs, einen Umschlag auszuwählen. Die ganze Zeit, während ich erst vergeblich versucht hatte, auf den Baum zu klettern, und dann vergeblich versucht hatte, den Apfel zu verhexen und zum Runterfallen zu bewegen, hatte mich der Junge beobachtet. Seine Blicke hatten mich angestachelt, es noch beharrlicher zu versuchen, seinetwegen hatte ich den Apfel noch heftiger begehrt. In dieser Hinsicht war ich wie meine Mutter. Nicht wie meine Mutter Aresu, sondern wie unser aller Urmutter: Eva. Ich wollte unbedingt das Gesicht wahren. Deshalb stand ich auf, nahm einen großen Stein, zielte sorgfältig und schleuderte den Stein mit aller Kraft in Richtung des Apfels. Wieder und wieder verfehlte ich mein Ziel. Schließlich kam der Junge näher, seinen Sittich auf der einen Hand, seine lyrische Einkommensquelle in der anderen.
»Wo sind deine Eltern?«, fragte er.
Ich vermied es krampfhaft, den Vogel anzusehen, starrte weiter hoch zu dem Apfel und gab keine Antwort.
»Wo sind sie? Noch da drinnen? Bist du stumm oder was?« Der Sittich knabberte an den Fingern des Jungen, tippelte dann zielstrebig seinen Arm hoch und setzte sich auf seine Schulter. Ich schwieg.
»Wenn du es mir sagst, hole ich dir den Apfel vom Baum«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen, bei dem er einen abgebrochenen Schneidezahn entblößte. Ich gab mich geschlagen und zeigte auf Dr. Vafas Praxis, die sich im Erdgeschoss des angrenzenden Hauses befand.
»Du musst lernen, wie man auf einen Baum klettert. Welchen Apfel willst du denn? Ich hole ihn dir. Aber du musst in der Zwischenzeit auf meinen Vogel aufpassen, damit ihn niemand klaut. Übrigens, du darfst nie die Blätter von einem Apfelbaum oder die Kerne essen.«
»Warum nicht?«
»Weil du dann stirbst.«
Noch bevor ich ihm den Apfel zeigen konnte, schob er seine Tageseinnahmen in die Brusttasche seines Hemdes und überreichte mir den Karton mit den Gedichten. Dann forderte er den Sittich mit einem Pfiff dazu auf, auf meine angststarre Schulter zu wechseln. Ich schrie auf, als der Vogel sich flatternd neben meinem Ohr niederließ und seine Federn mein Haar streiften. Er schlug noch ein paar Sekunden mit den Flügeln und beruhigte sich dann. Der Junge lachte und sagte, ich solle keine Angst haben, sondern mich ganz normal verhalten. Dann zog er seine hässlichen Schuhe aus und kletterte auf den Baum. Ich beobachtete, wie er den Stamm fachmännisch mit den Knien umklammerte und sich nach oben schob, ohne sich irgendwo festzuhalten, durch reine Muskelkraft. Sein magerer Po, der nicht viel größer war als meiner, sah von unten sehr lustig aus.
Ich streckte einen Arm aus und rief etwas zu laut: »Der da oben ist es, der glänzende Apfel über dir.« Der Sittich versteckte sich in meinem Haar, knabberte an meinem Ohr, rieb seinen gebogenen Schnabel an meinem Nacken und kitzelte mich so sehr, dass ich lachen musste. Als der Junge nach meinem Apfel griff, sah er zu mir herunter, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber da war es zu spät. Eva hatte den Apfel gewollt, Adam würde ihn essen. Mit den Beinen hielt der Junge die Taille des Baums umschlungen, griff mit der linken Hand nach dem Ast, zog ihn zu sich herab und pflückte den schimmernden Apfel. Er rieb ihn an seiner Hose blank und biss dann mit einem lauten Krachen hinein, das mir noch tagelang im Ohr klingen würde.
Tränen schossen mir in die Augen und begannen mir über die Wangen zu laufen. Wütend warf ich seinen Karton zu Boden, sammelte mehrere verfaulte, ameisenbedeckte Äpfel in meinem Pullover und begann, ihn damit zu bewerfen. Ich hasste ihn, ich hasste ihn abgrundtief. Der Sittich flatterte schimpfend über den regenbogenfarbenen Blättern, die jetzt überall auf dem Rasen verstreut waren. Einige Äpfel trafen den Jungen nur am Hals oder am Bauch, aber der letzte traf ihn mitten auf die Nase. Er verzog das Gesicht und plumpste wie ein Stein zu Boden, mit blutender Nase, den angebissenen Apfel in einer Hand.
Ich lief davon.
Eine Viertelstunde später kam ich mit meinen Eltern aus dem Haus. Ich versteckte mich hinter meinem Vater und umklammerte seine Beine wie ein verängstigter Koala. Ich zerrte so heftig an seinen Hosentaschen, dass er fast gestolpert wäre. Er befreite sich von meinen schwitzigen Tentakeln und sagte: » Baba dschan , bitte geh wie ein normaler Mensch.«
Der Junge saß auf dem Bürgersteig, an derselben Stelle wie vorher, und hielt sich ein blutiges Taschentuch an die Nase. Der Karton mit den Umschlägen stand wieder vor ihm, und obenauf thronte der Sittich wie ein gelangweilter Wahrsager, der in einem Jahrmarktszelt darauf wartet, dass jemand seine übersinnlichen Fähigkeiten in Anspruch nehmen möchte.
»He, junger Mann!«, sagte mein Vater, als er die blutige Nase und das schmutzige Hemd des Jungen sah, und wuschelte ihm aufmunternd durchs schwarze Haar. »Alles in Ordnung?«
Der Junge zog einen Apfel aus seinem Hemd und rieb ihn an der Hose blank. »Ja.« Er grinste mich mit seinem bescheuerten abgebrochenen Zahn an und streckte mir den Apfel hin. »Den hier hast du vergessen.«
Ich bat meine Mutter mit einem Blick um Erlaubnis, und der Junge erklärte: »Sie hat mich gebeten, ihr einen Apfel zu pflücken, und ist dann ohne ihn weggerannt.«
»Das war aber wirklich nett von dir«, sagte mein Vater zu dem Jungen. »Das war wirklich nett von ihm, nicht wahr, Sheyda?« Er schob mich zu dem Jungen. »Sei nicht undankbar! Er hat sich sogar verletzt, nur um dir einen Gefallen zu tun. Na los, nimm den Apfel.«
Ich tat wie geheißen. Ich riss ihm den Apfel aus der Hand, bevor der Junge es sich anders überlegen und ihn selbst essen konnte. »Warte!«, rief meine Mutter, als sie sah, dass ich Anstalten machte hineinzubeißen. »Wir müssen ihn erst waschen. Du kannst ihn zu Hause essen.« Sie griff in ihre Handtasche und kramte etwas Geld hervor, um den Jungen für seine Bemühungen zu bezahlen.
»Ich will den Vogel haben«, sagte ich ruhig.
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