»Es gibt Fotos!« Als Beweis hielten mir meine Mutter und meine Tante Bahar Fotoalben vor die Nase und wiesen auf ihre glattrasierten nackten Beine, die bodenlangen Festkleider, die unverschleierten Hochsteckfrisuren und die lackierten Zehennägel, die aus Sandalen hervorschauten. Aber ihre Erzählungen und das, was ich um mich herum sah, passten nicht zusammen. Ich nahm die Fotos in die Hand, sah nachdenklich aus dem Fenster und dachte: »Wie sind wir von dem da zu dem hier gekommen?«
Meine Mutter sagte oft: »Das alles gab es wirklich. Wir hatten ein Leben in asadi , in Freiheit.«
Asadi. Asadi . Von dem Wort bekam ich Albträume. Es bedeutete alles und nichts. Es war ein unerreichbares Ideal, wie »Perfektion« und »Gott« und »wahre Liebe« und »Zuhause«. Es ist ein Ideal, das man sehen, berühren, schmecken und am eigenen Leib erfahren muss. Man muss die Freiheit erlebt haben, um an ihre Existenz zu glauben. Man muss sie geliebt haben, um an ihre Wahrheit zu glauben.
»Und wie hat sich das angefühlt?«, fragte ich die beiden oft.
»Also … äh …«, stammelten sie. Sie wussten nicht, was sie antworten sollten, die Sprache hatte sie verlassen. Aber ihre Augen drückten aus, was ihre Zungen nicht sagen konnten.
Ich wurde in Gefangenschaft geboren. Und mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob überhaupt irgendjemand frei geboren wird.
Yeki bud, yeki nabud ,
gheir az choda, hietsch-kas nabud .
Mit diesem unlogischen Satz begann meine Mutter jeden Abend ihre Gutenachtgeschichte, und trotz seiner Unlogik war er melodiös genug, um mich in eine Nacht süßer Träume und endloser Grübeleien zu entlassen. Rechts und links von meiner Wirbelsäule begann es zu jucken, und wenn die Geschichte zu Ende ging, waren mir Flügel gewachsen, die mich aus den Trümmern der Realität in einen Himmel der Ideen hoben. Meine Mutter, deren Gesicht im Schein der Nachttischlampe orange leuchtete, sagte immer: »Du brauchst keine Flügel, um zu fliegen, du brauchst nur deine Phantasie. Du brauchst nur ein liebendes Herz.« Ich starrte hingerissen auf ihre ovalen Nasenlöcher und die stecknadelköpfigen schwarzen Haare an ihrem Kinn, die ich manchmal mit der Pinzette entfernen durfte, und wartete, dass sie die Tür zu meinem Käfig aufschloss und mich freiließ: ihre liebeskranke Nachtigall.
Träume kosten nichts, und niemand konnte mir meine Träume nehmen. Während der acht Jahre eines Kriegs, der zu beiden Seiten einer heimtückischen Grenze Kinder zu Waisen machte, Frauen zu Witwen, dunkelhäutige Väter zu Beinamputierten und Brüder zu kopflosen Leichen, wagte ich mich erst im Schutz der Finsternis, wenn der Rest der Welt schlief und das Böse ruhte, aus meinem enger werdenden Käfig und flog zum Mond. Nur in seinem Licht fühlte ich mich geborgen, nur in seinem Licht konnte ich schlafen.
Meine Mutter hatte Englisch studiert und beabsichtigte, Lehrerin zu werden. Sie hatte die Sprache an der Universität gelernt und sie in Gesprächen mit einer amerikanischen Familie, die vor der Revolution drei Straßen von unserem Haus entfernt wohnte, geübt. Unsere amerikanischen Nachbarn kehrten lange vor dem Sturz des Schahs in ihr fernes, lautes Land zurück, wo sie Rasen mähten und den Gartenzaun strichen. Meine Mutter schwärmte heimlich für ihren Lehrer (der Apfel fällt nicht weit vom Stamm), einen gewissen Mr Carl, der meinem Vater zufolge CIA-Agent war. Während der Revolution, als die Religionspolizei Wohnungen durchsuchte und alles beschlagnahmte, was in ihren Augen gegen die guten Sitten verstieß (Kartenspiele, Alkohol und sämtliche Fotos kopftuchloser Frauen), vergruben meine Eltern Bücher, Zeitschriften und alle unislamischen Fotos von sich selbst im Garten. Auf diese Weise ging man bei uns mit der Vergangenheit um. Man begrub sie, um sie zu bewahren.
Als meine Mutter ungeplant schwanger wurde und ihr Studium abbrechen musste, gab es nur noch eine Möglichkeit, ihren Traum vom Unterrichten zu verwirklichen: Ich wurde ihre Schülerin, ihre einzige Schülerin. Zwar lernte ich schnell Englisch, aber manche Wörter konnte ich erst Jahre später richtig aussprechen. Lange klang » Hawaii « wie » Havaii «, » waitress « wie » vaitress « und » knife « peinlicherweise wie » kneif «.
In meiner Kindheit war meine zweitliebste Geschichte die meiner Geburt. Auf Platz eins stand die Geschichte meiner Zeugung, aber die erzählte mir meine Mutter nie. Dafür kam sie mir auf anderem Weg zu Ohren. Bei uns währt kein Geheimnis lang, jedenfalls kein solches. Beide Geschichten waren etwas ganz Besonderes, weil sie von einer Zeit handelten, in der ich noch hätte gerettet werden können; von einer Zeit, in der noch nicht feststand, welche Richtung mein Leben nehmen würde. Meine Mutter hätte abtreiben können. Sie hätte uns alle beide töten können. Sie hätte das Land verlassen können, wie so viele andere es getan hatten und immer noch taten. Das Leben ist ein russisches Roulette, und aus einem seltsamen Grund zeigte die Mündung der Pistole immer auf meine Schläfe. Und jedes Mal, wenn ich Bekanntschaft mit einer Kugel machte, fiel mir auf, dass nicht ich den Abzug betätigt hatte. Immer gab es jemanden in meinem Leben, der das für mich übernahm.
Als die Wehen einsetzten, hielt meine Mutter sie für ganz normale Bauchschmerzen, und obwohl ihre Krankenhaustasche seit Wochen gepackt war, rief sie meinen Vater erst an, als die Fruchtblase geplatzt war. »Sei stark, ich liebe dich«, rief er, bevor er auflegte und panisch irgendwelche Nummern wählte und jede weibliche Person, die ans Telefon ging, anflehte, doch bitte seiner Frau zu helfen. Während meine Mutter neun Monate Schwangerschaft hinter sich ließ, spielte unser Schwarzweißfernseher, eine bizarre kopflose Kreatur auf Holzbeinen, stumm die Nachrichten, die damals alle Iraner verfolgten, und sah zu, wie meine Mutter mich in die Welt hinauspresste.
Es wehte ein neuer Wind. Hinfort mit allem Neuen, her mit dem Alten!
Meine Mutter lag auf einer Matratze, die sie hinterher wegen der großen Blutflecke wegwarf. Meine Großmutter mütterlicherseits, Nana Farangis, saß hinter ihr, drückte den Kopf meiner Mutter an ihren mächtigen Busen und wischte ihr mit einer braunen Hand übers Gesicht, während Schweißtropfen auf ihren Bauch tropften. Nach fünf Stunden Gebrüll und Gebettel, nach fünf Stunden, in denen meine Mutter abwechselnd zu Gott gebetet und ihn dafür verflucht hatte, dass er sie als Frau erschaffen hatte, nach fünf Stunden, in denen sie ins Kopfkissen gebissen, meiner Oma fast den Arm ausgerissen und die Hebamme so rachsüchtig in die Brüste getreten hatte, dass meine Tante Bahar, die jüngere Schwester meiner Mutter, in die Küche laufen und der armen Frau ein Glas Wasser holen musste, war der Kampf vorbei und ich gab mich geschlagen.
Ich kam zur Welt, in einem gemeinschaftlichen Kraftakt meiner Großmutter und einer derb fluchenden Hebamme aus der Nachbarschaft, saftig und glitschig wie eine empfindliche, überreife Frucht. Ich wurde aus dem Schoß der Zeit geboren, aus einer ewigen Dunkelheit hinein in eine Wirklichkeit aus Licht, Sonnenschein und Bomben, aus Nachtigallen, die frei über den Himmel flogen, blind für alle Grenzen, während mein Volk in Gefangenschaft verreckte. Ich schlug die Augen in einer Welt auf, in der rote Mohnblumen sehnsüchtig inmitten grüner Felder leuchteten. Zuerst kam mein Kopf, ein zerknautschtes Gesicht mit wütend zusammengekniffenen Augen und verzerrtem Mund, dann folgten ein langer Hals und ein Rumpf mit dürren Armen und Beinen, die eine beachtliche Körpergröße und eine flachbrüstige Jugend verhießen. Als Letztes kam der volle, runde Po, der Körperteil, den die wenigen Männer, mit denen ich geschlafen habe, neben meinen Lippen am meisten geliebt haben.
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