»Mann, war das geil!«, schnurrte er wie eine zufriedene Katze. Während Pickett die Hose wieder hochzog, bemerkte er, dass etwas Weißes auf seinen makellosen Reitstiefeln gelandet war. Hastig fischte er das karierte Tuch aus seiner Tasche und begann, die Stiefel wie ein Wilder zu putzen. Immer und immer wieder. Seine Bewegungen wirkten dabei fahrig und verkrampft.
Keiner der Männer wagte es, Pickett anzuschauen. Einige starrten in die Weite der Prärie, andere schienen plötzlich ein ungewöhnliches Interesse an ihren eigenen Stiefeln gefunden zu haben.
»Verfluchte Scheiße!«, brüllte Pickett und es klang, als ob ein kleines Kind einen Wutanfall hatte. Er spie auf seine Stiefel, um mit seiner Spucke die Schlieren zu entfernen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er das Tuch wieder wegsteckte und zufrieden auf seine Stiefelspitze schaute. Neuerliche Schweißperlen hatten sich auf seinem Schädel gebildet.
Pickett atmete tief ein und sein hagerer Körper schien sich von jetzt auf die nächste Sekunde zu beruhigen. Der Wutanfall war verschwunden und zurück blieb dieses leere ausdruckslose Gesicht mit den fast farblosen Augen.
»Wir kehren zum Stammhaus zurück!«, sagte er und wandte sich von den Toten ab. Die Männer erwachten aus ihrer Starre und eilten zu ihren Pferden.
»Ich werde Jenny heute keine Lust mehr bereiten können«, meinte Pickett zu dem Rattengesicht Gary, während sie aufstiegen.
»Warum nicht, Boss?«
»Ich muss mich erst erholen. Morgen werde ich es ihr ordentlich besorgen!«
»Genau, Boss!«, lachte Gary und gab seinem Pferd das Zeichen, sich in Bewegung zu setzen.
»Jetzt brauche ich etwas Anständiges zum Essen. Der Nigger soll uns ein Festmahl kochen!«, rief Pickett seinen Männern zu. Die Männer grölten ihre Zustimmung, denn sie waren ebenso hungrig wie ihr Boss.
Und so ritten Desmond Pickett und seine Bande zurück zu ihrem Stammhaus in den Wäldern.
Fast hundertfünfzig Jahre später in den Tiefen des Odenwaldes …
Zwischen Reichelsheim und Michelstadt gab es eine Landstraße, die durch ein Feld-, Wald- und Wiesengebiet führte, das die Einheimischen liebevoll die »Hutzwiese« nannten. Woher der Name kam, konnte niemand wirklich erklären. Selbst der Präsident des Odenwälder Trachtenvereins konnte nur mit den Schultern zucken und darauf hinweisen, dass die Hutzwiese schon immer so geheißen hätte. Die Hutzwiese war eben die Hutzwiese! Dort lebten nur vereinzelt Menschen, die ihre Häuser in unmittelbarer Nähe der Landstraße bauten, denn die angrenzenden Areale waren weiträumig Naturschutzgebiete. Die Landstraße führte durch dichtes Waldgebiet, manchmal in engen Serpentinen, aber auch in langen Strecken, die einfach nur geradeaus verliefen. An einem der höchsten Punkte inmitten des Waldes lag das Gasthaus »Die vier Tannen«, ein beliebtes Ziel für alle Odenwälder, aber auch für Leute aus den angrenzenden Städten wie Darmstadt oder Frankfurt, war es doch für seine hervorragenden Wildgerichte bekannt (Wild, das direkt von den grünen Auen der Hutzwiese stammte). In dem Gasthof konnte man sonntags einfach mal die Seele baumeln lassen und die kulinarischen Besonderheiten des Odenwaldes genießen. Vergessen war für wenige Augenblicke der Stress des Alltags, dem die Stadtmenschen ausgesetzt waren. Allerdings hatte es auf der Landstraße schon viele Verkehrstote gegeben, denn die Besucher der Gaststätte achteten nicht auf ihren Alkoholkonsum. Zu verlockend war das Angebot an Rotweinen, insbesondere aus dem angrenzenden Groß-Umstädter Weingebiet. Und so kam es, dass viele Gäste die Heimreise in volltrunkenem Zustand antraten, der manchen unbeteiligten Autofahrer schon das Leben gekostet hatte. Aber auch Motorradfahrer blieben nicht verschont, denn die Serpentinen waren tückisch und der eine oder andere Raser war an einem der massiven Baumstämme mit seiner Maschine im wahrsten Sinne des Wortes zerschellt.
Unterhalb der Gaststätte gab es in einer Kurve eine Reihe von Häusern, die offiziell zur Gemeinde Reichelsheim zählten. Es waren Bauernhöfe, aber auch Häuser, die im ländlichen Stil errichtet waren.
In einem dieser einfachen Fachwerkhäuser lebte Hubert Arras, den seine Nachbarn gemeinhin als Sonderling abtaten. Jeder in Reichelsheim kannte den Hubert, denn er fiel auf, wenn man an ihm vorbeifuhr oder ihn in der örtlichen Tanzbar sah. Er selbst hatte sich den Spitznamen »Don Tiki« gegeben und bestand auch darauf, dass man ihn mit diesem Namen ansprach. Der Name stammte von einer weitgehend unbekannten Musikband aus Hawaii, die an eine exotische Welt aus den Fünfzigerjahren erinnerte, als jede amerikanische Stadt eine eigene Tiki-Bar hatte, die den Geist der geheimnisvollen Götter Polynesiens heraufbeschwor. Ähnlich wie »Die vier Tannen« boten diese exotischen Szenebars einen Rückzug aus der stressigen Alltagswelt in ein Paradies aus Harfenklängen, Bongos und anmutigen Hulatänzerinnen.
Don Tiki war immer in Hawaiihemden gekleidet, wenn er auf den Straßen von Reichelsheim zu sehen war. Sein ganzer Kleiderschrank war voller Hemden, die meisten davon stammten aus den Textilfabriken von Reyn Spooner, die seit 1956 Original-Hawaiihemden in den verschiedensten Farben und Designs herstellten. Egal, welches Wetter herrschte, Don Tiki war auch im Winter mit kurzen Khakihosen anzutreffen. Seine Augen versteckte er hinter einer dieser großen Sonnenbrillen, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren einst modern gewesen waren. Er besaß nur noch einen kleinen schütteren Haarkranz, der seinen kahlen Kopf umsäumte und Erinnerungen an die Tonsur eines Mönches erweckte. Ja, Don Tiki war ein Sonderling und ein Reichelsheimer Original! Die Leute erinnerten sich an den Freak , wo auch immer er auftrat.
Nicht weniger sonderbar war auch sein altes Fachwerkhaus in der Hutzwiese, das seinen Eltern gehört hatte, die im vergangenen Sommer verstorben waren. Nach dem Tod der Eltern hatte er Haus und Hof nach seinen exotischen Wünschen verändert: Überall standen große Tiki-Masken, lang gezogene Schädel mit mythischen Fratzen, die die polynesischen Götter darstellten. An dem großen Hoftor hingen sogenannte Lei-Kränze aus künstlichen Blumen, wie man sie zur Begrüßung auf Hawaii geschenkt bekommt. Im Hof gab es mehrere Plastikpalmen, die so kitschig aussahen, dass sich den Nachbarn beim Anschauen die Fußnägel hochrollten. Am Abend brannten Ölfackeln vor der Einfahrt, die die Holzmasken der Tiki-Götter zum Leben erweckten. Viele Autofahrer bremsten ab, wenn sie an dem Fachwerkhaus von Hubert Arras vorbeifuhren, weil sie hofften, einen kleinen Einblick in eine kitschige Hinterwälderwelt zu bekommen, die so abnormal war, dass sie schon wieder faszinierte.
Während des Sommers saß Don Tiki stets in seinem Hof, hatte eine Ukulele in den Händen, zupfte gedankenversunken ein paar Saiten (denn spielen konnte er nicht) und lauschte den hypnotischen Klängen der Tiki-Musik, die aus den Lautsprechern ertönte, die er überall angebracht hatte. Meistens hörte er Lieder von seiner gleichnamigen Lieblingsband, aber auch Stücke vom Godfather of Tiki-Music Martin Denny (dessen Bild natürlich in seinem Wohnzimmer hing). Les Baxter und Arthur Lyman durften auch nicht fehlen. Obwohl das Tiki-Gedudel den Nachbarn tierisch auf den Sack ging, hatten sie es aufgegeben, die Polizei zu rufen. Don Tiki war stur und ließ sich keines Besseren belehren. Sobald die Streife wieder weg war, schaltete er die Musik an und ließ sich von den schwingenden Rhythmen betören.
In einer heißen Sommernacht kam es durchaus vor, dass er in seinem Liegestuhl mit einem Cocktail in den Händen einschlief und erst am frühen Morgen, wenn es wieder hell wurde, sein Bett aufsuchte.
Es war eine jener Sommernächte, in denen Don Tiki sich vom Geist des Alkohols benebeln ließ. Zusammen mit seinem Freund Mike aus Beerfurth versuchten sie, ein paar Cocktails, wie etwa den berühmt berüchtigten »Long Island Ice Tea«, zu kreieren. Der viele Rum stieg Don Tiki schon sehr früh zu Kopf. Irgendwann fielen ihm die bleiernen Augenlider zu und er versank in einen traumlosen Schlaf. Er bemerkte nicht einmal, dass sein Kumpel Mike gegangen war, um den Heimweg nach Beerfurth anzutreten.
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