Plötzlich riss ihn ein Knall aus seinem alkoholgeschwängerten Schlaf. Augenblicklich war er hellwach. Das halb volle Cocktailglas auf seinem Schoß wurde mit einer fahrigen Bewegung seiner Hand auf den Boden geschleudert und zersplitterte dort. Sein Herz klopfte bis zum Anschlag, und er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Das unbekannte Geräusch hallte wie ein Echo von den bewaldeten Bergen wider, bevor es ganz verstummte.
Don Tiki erhob sich aus seinem Liegestuhl. Mit hastigen Schritten überquerte er den Hof seines Hauses und wäre um ein Haar gestolpert, da sein rechter Badeschuh auf dem unebenen Kopfsteinpflaster hängen blieb. Er passierte den Torbogen und blickte hinaus auf die Landstraße. Es war stockdunkel, kein Auto weit und breit. Die Häuser in der Nachbarschaft lagen in kompletter Dunkelheit.
»Was zum Teufel …«, fluchte er und kratzte sich an seinem Stoppelbart. Sein Kopf schmerzte vom vielen Alkohol; er hörte das Blut in seinem Schädel rauschen. Die Umgebung lag in einer unheimlichen Stille. Don Tiki trat auf die Landstraße, blickte nach links und rechts, doch die Dunkelheit schien die nähere Umgebung förmlich verschluckt zu haben. Die einzige Straßenlampe am Wegrand funktionierte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo ist Mike? , fragte er sich. Wahrscheinlich bin ich im Vollrausch eingeschlafen und Mike hat sich auf den Heimweg nach Beerfurth gemacht . Möglicherweise hatte sich sein Kumpel sogar von ihm verabschiedet, aber davon hatte er nichts mehr mitbekommen, da der Long Island Ice Tea seine Sinne benebelt hatte. Er nahm sich einmal mehr vor, das Trinken zu reduzieren. In der letzten Zeit war es eindeutig zu viel geworden. Er war langsam an dem Punkt angelangt, wo er sein Trinkverhalten nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das musste jetzt aufhören! In einer Fernsehsendung hatte er einmal gesehen, dass Menschen halluzinierten während des Übergangs vom tiefen Schlaf zum Wachbewusstsein. Wahrscheinlich hatte sein Hirn ihm eine akustische Halluzination vorgetäuscht. Er wollte die ganze Sache schon abtun, als er das Leuchten in der Ferne im Wald sah. Zwei-, nein, dreimal flackerte es kurz auf, als würde man einen Scheinwerfer ein- und ausschalten.
Don Tiki kniff die Augen zusammen, weil er glaubte, dass er wieder einer Halluzination auf den Leim ginge, doch da tauchte das Leuchten erneut auf und hielt diesmal sogar länger an, tauchte die Bäume in ein fluoreszierendes Licht. Irgendjemand trieb sich in den Wäldern entlang der Landstraße herum.
Unsicher kratzte er sich am Hinterkopf. Sollte ich nachschauen? Doch zwei unterschiedliche Gefühle kämpften in seiner Brust: Zum einen seine Neugierde, denn er war von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch, was bei einem waschechten Odenwälder aber auch kein Wunder war. Und zum anderen das Gefühl von Angst, denn niemand mit einem halbwegs gesunden Menschenverstand trieb sich gerne freiwillig nachts in den Wäldern herum. Erst vor Kurzem war die arme Frau Arras von einem Wildschwein erfasst und getötet worden. Sie war im Wald joggen gewesen und auf ein Rudel Wildschweine gestoßen. Statt wie ihr Partner sich vorsichtig zu entfernen und das Weite zu suchen, war sie auf die Tiere zugegangen und hatte versucht, sie zu verjagen. Dies hatte sie mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die Tiere trampelten sie nieder und schlitzten die ungeschützten Beine mit ihren Hauern auf. Frau Arras war binnen weniger Minuten verblutet.
Ja, Don Tiki hatte Respekt vor diesen Wäldern. Denn neben den Wildschweinen gab es auch immer wieder Gerüchte über Banden aus den Ostblock-Ländern, die im Wald ihr Unwesen trieben und Wanderer überfielen. Doch seine Neugier überwog, auch wenn sie die Angst nicht vollkommen vertreiben konnte. Diese blieb wie ein Residuum in seinem Unterbewusstsein zurück und flammte immer wieder auf.
Don Tiki ging zurück in den Hof und holte sich eine alte Heugabel aus dem Schuppen. Mit dieser Waffe fühlte er sich gleich sehr viel wohler. Wenn ihm jemand etwas antun wollte, dann würde er die drei spitzen Zinken zu spüren bekommen.
Die Heugabel mit beiden Händen fest umklammernd, schlich Don Tiki über die Landstraße in Richtung Wald.
Es gab eine große Wiese, die einem Bauer von den Windhöfen gehörte, die den Bäumen vorgelagert war. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien. Seine Badelatschen waren äußerst unpraktisch im hohen Gras, doch er wäre nie auf die Idee gekommen, sich anderes Schuhwerk anzuziehen. Sein Blick war strikt auf die angrenzenden Bäume gerichtet. Immer wieder flackerte für einen kurzen Augenblick dieses seltsame Licht auf. Manchmal leuchtete es aus den Wäldern sogar für mehrere Sekunden. Vielleicht waren es Jugendliche, die dort oben zelteten und sich einen Spaß erlaubten.
Es dauerte eine gefühlte halbe Stunde, bis er die Wiese überquert hatte. Er musste mehrere Male anhalten, weil er ab und zu im Gras seine Latschen verlor. Dann stand er vor den Bäumen; das Leuchten hüllte ihn in ein unheimliches Licht. Nervös leckte er sich über die Lippen. Und auf einmal war seine Neugierde verschwunden. Zurück war die Angst, die ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Vielleicht war es besser, zurück ins Haus zu gehen, sich einen ordentlichen Schluck Rum einzuschenken (da war ja noch eine wunderschöne Flasche »Diplomatico Ambassador«, die ungeöffnet ihr langweiliges Dasein in seiner selbstgebauten Tiki-Bar im Keller fristete) und schlafen zu gehen. Manche Dinge sollten vielleicht besser im Verborgenen bleiben. Während er noch wie erstarrt dastand und nicht wusste, was er machen sollte, drang das Leuchten immer wieder zwischen den Baumstämmen hervor, eine Art Flackerlicht, das einer zufälligen Frequenz folgte.
»Nur noch ein paar Meter!«, murmelte er und versuchte, sich Mut zuzusprechen. Seine Stimme klang seltsam trocken und heiser. Vielleicht sollte er umkehren und seine Kehle mit dem Diplomatico befeuchten.
»Nur noch ein paar Meter!«, sagte er erneut, nachdem er immer noch verharrte. Ganz langsam setzte er sich in Bewegung, einen Schritt vor den anderen. Dann tauchte er zwischen den Bäumen hindurch und befand sich im Wald. Es gab keinen Weg, das Terrain war ziemlich schwierig zu meistern, denn überall wucherte Gestrüpp um ihn herum.
Das Leuchten wurde immer intensiver, je näher er der mysteriösen Lichtquelle kam. Obwohl er sich seine Khaki-Hose an einer Dornenhecke aufriss, kam kein Fluch über seine Lippen. Sein Herz arbeitete in einem wilden Stakkatotakt. Er glaubte, dass man ihn meilenweit hören müsse, denn überall raschelte es, während er sich fortbewegte.
Bäume und Sträucher machten nun einer hügeligen Lichtung Platz. Und auf einmal wusste Don Tiki, woher das Licht kam. Er schalt sich einen Narren, dass es ihm nicht schon früher eingefallen war. Hier im Wald gab es einen alten Luftschutzbunker aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Dort hatten sein Vater und sein Großvater mit ihren Familien Schutz gesucht, als die Alliierten den Odenwald bombardierten. Nach dem Krieg war der Bunker versiegelt worden und der Pfad dorthin war im Laufe der Zeit von der Natur zurückerobert worden. Die wenigsten Menschen wussten, dass es hier einen Bunker gab.
Jetzt war die Neugierde wieder da, stärker als zuvor. Er wollte wissen, welcher Vollidiot sich nachts in den Wäldern herumtrieb und an dem Bunker zu schaffen machte. Das war eine Geschichte für Mike und seine Stammtischbrüder! Er wäre in Reichelsheim das Gesprächsthema Nummer 1. Er, der Mann im Hawaiihemd! Vorsichtig näherte er sich der Lichtung und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Er biss sich auf die Zunge, als ein trockener Ast unter ihm knackte. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund, und er versuchte, es mit seinem Speichel hinunterzuschlucken.
Vor ihm tat sich die Lichtung auf, und er konnte direkt auf den höhlenartigen Unterschlupf blicken, den seine Familie während den Bombardierungen aufgesucht hatte. Der Bunker selbst war von Granitfelsen umgeben. Dahinter ragten mächtige Tannen in die Höhe, die in der Finsternis wie übergroße Speerspitzen aussahen.
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