Dieser zweite Band der Geschichte ist in Dankbarkeit meinem Schwiegervater Winfried Glöckner gewidmet .
Aus der Ferne machte Cheops einen stattlichen Eindruck. Die meisten Gebäude waren aus Stein gemauert oder mit getrockneten Lehmziegeln errichtet worden. Es gab Arkaden, auf denen man mit der Dame seines Herzens flanieren konnte. Die alte Mission mit dem Glockenturm hatte erst vor Kurzem einen neuen Anstrich erhalten. Am Stadtrand erhoben sich mehrere Wassertürme, die im Sonnenuntergang wie schlafende Riesen aussahen.
In Cheops waren die Dürreperioden im Sommer ausgesprochen lang, sodass die Menschen mit dem Trinkwasser haushalten mussten. Doch die Einwohner waren an die harten Zeiten gewöhnt. Im Winter wurden sie von heftigen Blizzards geplagt und im sogenannten Tornado Alley wüteten oft sehr starke Tornados. Hinter der Stadt erstreckte sich die endlose Prärie, in den letzten Sonnenstrahlen ein rot gefärbtes Tuch, besprenkelt mit Farmen und Ranchen.
Obwohl Kansas relativ flach war, gab es im östlichen Teil ausgeprägte Hügel- und Waldlandschaften. Rainer Mehnert, Bezwinger der mächtigen Göttin Hekate, Cowboy und Vagabund, Revolverheld und Überlebender der Stadt der Nacht, Dionaea muscipula, blickte zufrieden von der Anhöhe auf das idyllische Cheops herab. Er war endlich am Ziel angekommen!
Er klopfte sich den Staub von seinem Cowboyhut und seiner Fransenlederjacke. Der Weg nach Cheops war hart und entbehrungsreich gewesen. Doch hier wollte er einen Neuanfang wagen! Er war entschlossen, ein legendärer Maverickjäger zu werden. In den weitläufigen Ebenen hatte sich das Vieh auf Teufel komm raus vermehrt. Viehherden so weit das Auge reichte. Da es während des Krieges keinen Absatz für die Rinder gegeben hatte, war der gesamte Viehbestand ungebrändet! Auf diese Rinder – die sogenannten Mavericks – hatte es der Cowboy abgesehen.
In Kansas gab es riesige Verladebahnhöfe, die das Vieh zu den Schlachthöfen transportierten. Die Maverickjäger fingen die verwilderten ungebrändeten Tiere ein und brachten sie zu den Verladestellen. Und dafür gab es eine Menge Geld! Geld, das der Cowboy für feuchtfröhliche Pokerspiele und heiße Weiber ausgeben wollte. Denn es war schon lange her, dass er die warmen Schenkel einer Frau genossen hatte. Eine Frau mit tollen Brüsten, muskulösen Waden und einem schönen Becken, an dem man sich festhalten konnte! Ja, ein solches Prachtweib wäre jetzt genau das Richtige für ihn, den Westmann.
Doch solche Fantasien mussten vorerst noch warten, bis er ein Maverickjäger werden würde. Vielleicht reichten die paar Dollars in seiner Westentasche noch, um sich ein Tingeltangel-Girl in einem der zwielichtigen Varietés anzuschauen.
Der Cowboy ging zurück zu seinem Pferd, das er an einem Baum angebunden hatte. Ächzend schwang er sich auf den alten Gaul. Nur widerwillig setzte sich das Tier in Bewegung. Das Reiten hatte in den Wildwestfilmen immer so mühelos und heldenhaft ausgesehen, aber davon musste er sich verabschieden. Sein Hinterteil schmerzte höllisch von dem harten Ritt, da seine Gesäßknochen gegen den Reitsattel scheuerten, und das, obwohl er eine grobe Baumwollhose mit Ledereinlagen trug. Vielleicht sollte ich es mal mit einer Fellauflage auf dem Sattel probieren , dachte er.
Während er in das Tal Richtung Cheops trabte, sagte er sich, dass diese Szene etwas von einem Groschenroman an sich habe und schmunzelte. Früher hatte er immer die Wildwestromane vom Kiosk gelesen. Fast jeder Heftroman fing damit an, wie der Protagonist hinunter in die Stadt ritt. Das hatte etwas Heldenhaftes! So könnte es jetzt auch bei ihm sein. Wenn nur nicht sein Hintern so furchtbar brennen würde!
Hekate hatte ihn in eine Parallelwelt befördert: nach Nordamerika, in eine Zeit nach dem Bürgerkrieg. Es musste eine Parallelwelt oder zumindest ein sehr großes Taschenuniversum sein. Am Anfang war er misstrauisch gewesen, ob die alte Schlampe ihn betrogen und in eine Zeit befördert hatte, in die er nicht hingehörte. Solche Dinge konnten weitreichende Konsequenzen haben. Es könnte eine Anomalie entstehen, die das kosmische Muster veränderte. Und dann würde er Besuch von seinen Freunden, den tollwütigen Seemännern, bekommen. Unheimliche Wesen in archaisch wirkenden Taucheranzügen, ausgestattet mit gewaltigen Flammenwerfern, die eine Welt auslöschten, bevor die Anomalie sich verselbstständigte und ein Ungleichgewicht im gesamten Universum verursachte. Die tollwütigen Seemänner waren sozusagen die Ordnungspolizei der griechischen Götter, die über den Kosmos herrschten.
Am Anfang schlief er schlecht, legte sich manchmal sogar nachts auf die Lauer, weil er glaubte, jeden Moment könne einer der tollwütigen Seemänner aufkreuzen und ihn vernichten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er die Wesen in der Stille der Nacht hören konnte: ein angestrengtes Schnaufen, das den Atemgeräuschen einer Herz-Lungen-Maschine in nichts nachstand. Doch sie waren nicht gekommen. Vorerst nicht … Sein Blick spähte über das von der Sonne verbrannte Gras. Immer auf der Suche nach verräterischen dunklen, ausgetrockneten Flecken. Es war ein Tic, den er sich in den letzten Wochen angewöhnt hatte, immer auf der Suche nach Nacktschnecken. Doch hier in Kansas schien es keine Schnecken zu geben – jedenfalls hatte er noch keine gesehen. Die toten Schnecken waren die ersten Vorboten der tollwütigen Seemänner. Sie läuteten damals in seiner alten Welt das Ende ein!
Als er fast die Stadt erreicht hatte, richtete er sich im Sattel auf, denn ein Westmann musste Eindruck schinden, wenn er in eine Stadt ritt.
Cheops war eine typische Westernstadt. Schon von Weitem konnte man das Gelächter aus dem Saloon hören, die laute Klaviermusik aus den Varietés, in denen die Tingeltangel-Girls sich auf der Bühne herumtummelten, das Wiehern der Pferde. Die Geräusche waren dem Cowboy allesamt vertraut. So ein Leben hatte er sich immer gewünscht. Und jetzt, wo es da war, wollte er es in vollen Zügen genießen. Zum Teufel mit den Nacktschnecken und den tollwütigen Seemännern. Er war hier, um ein waschechter Maverickjäger zu werden! Yeah!
Er war ein neues Gesicht in der Stadt und die Bürger von Cheops musterten ihn neugierig von den Arkaden aus. Die Stadt bot Platz für drei- bis vierhundert Siedler. Verglichen mit den großen Städten im Osten, war es ein kleines Kaff. Vor dem Saloon standen einige zwielichtige Gestalten, Dollarwölfe, die für Geld alles machten. Aufmerksam musterten sie den Cowboy.
Er nickte ihnen zu, doch keiner erwiderte den Gruß. »Dann halt nicht, ihr Arschlöcher«, murmelte der Cowboy in seinen Bart, schob den Hut in den Nacken und betrat den Saloon des »Irish Cattlemen«. Als der Cowboy durch die Schwingtür trat, richteten sich alle Gesichter auf ihn, den Fremden. Grinsend schaute er in die Runde. In der Mitte des Saloons befand sich ein runder Pokertisch, an dem mehrere Herren in schwarzen Anzügen saßen und über ihre Karten hinweg in Richtung des Cowboys starrten. Ihre abwertenden Blicke zeigten ihm, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Den Chips nach zu urteilen, die auf dem Tisch lagen, spielten die feinen Herren nur um kleine Beträge. Schade!
Der Wirt hinter dem lang gezogenen Schanktisch war ein wahrer Brocken von Kerl, vermutlich sechs Fuß groß, mit dem Kampfgewicht von einem ausgewachsenen Ochsen. Seine rotblonden Haare verrieten seine Herkunft und hatten dem Saloon wahrscheinlich auch seinen Namen gegeben. Von dem Rothaarigen ging eine rohe Kraft aus. Jetzt schielte der Wirt auf etwas hinter der Theke – vermutlich auf eine Schrotflinte, die er griffbereit dort liegen hatte, falls es Ärger gab. Die Schrotflinte würde er aber wahrscheinlich gar nicht brauchen. Wenn sich dieser rothaarige Bulle auf den Cowboy werfen würde, dann wäre von ihm nicht mehr viel übrig.
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