So steht etwa der schwarz-weiß gekachelte Boden – das sogenannte Musivische Pflaster, eines der wichtigsten Symbole des Freimaurertums – für die Überzeugung, dass die verschiedenen Religionen gleichwertig sind, dass Gott ein Konzentrat sowohl des Guten wie des Bösen ist und dass der Mensch sich seine eigenen Gesetze gibt.
Symbolik des Musivischen Pflasters und des Relativismus
Was bedeutet das Musivische Pflaster?
Das Musivische Pflaster zählt zu den machtvollsten Symbolen der freimaurerischen Doxa . Es bildet – und zwar für alle Grade – eine der Grundlagen, wenn nicht sogar das wesentliche Bezugssystem der freimaurerischen Initiation. Schon am Abend meiner Initiation war ich beeindruckt von diesem rechteckigen Schachbrett aus schwarzen und weißen Fliesen in der Mitte des Tempels, um das herum die drei »Säulen« der Loge angeordnet waren.
Manche Freimaurer haben während einiger meiner Vorträge darauf hingewiesen, dass es sich doch »nur« (sic) um ein Symbol handele. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen, was ich ihnen schon damals geantwortet habe: »Genau! Das Musivische Pflaster ist ein freimaurerisches Symbol. Nicht mehr und nicht weniger!«
Denn ein freimaurerisches Symbol ist niemals harmlos. Und vor allem bezieht sich dieses Symbol auf die unzugängliche freimaurerische »Wahrheit«.
Später lernte ich, dass die weißen und schwarzen Fliesen gleichwertig sind und eine duale Sicht des Universums und der Kräfte versinnbildlichen, aus denen es sich zusammensetzt: »Alles gleicht sich mit strenger Genauigkeit aus […]. Wir wissen das Vergnügen nur zu schätzen, wenn wir es dem Schmerz gegenüberstellen […]. Die Freude misst sich am Leid […]. Der Irrtum manifestiert die Wahrheit. Das Gute zieht uns in dem Maß an, wie das Böse uns abstößt. Das Schöne gefällt uns im gleichen Verhältnis, wie das Hässliche uns Schrecken einflößt. Das Licht nimmt man nur durch den Gegensatz zur Finsternis wahr.« 12
Für die Freimaurerei sind diese dualen Kräfte nicht nur eine Verbindung, die unterschiedliche Potenziale minimiert, sondern sie stehen sich auf ewig gegenüber. Meine Erfahrung mit der Freimaurerei verleitete mich zu dem falschen Schluss, dass dieser Kampf den Lebensprozess in Gang setzen würde: »Das Leben geht aus einem permanenten Konflikt hervor. Der Gegensatz ist es, aus dem sich alles ergibt.« 13
Übrigens nimmt die Freimaurerei grundsätzlich an, dass der Mensch keinen Zugang zu einer absoluten Wahrheit hat: »Man darf nämlich vermuten, dass sich uns die absolute Wahrheit […] a priori entzieht.« 14Sie leugnet sogar, dass die Wahrheit überhaupt absolut sein kann. 15Ein Geselle erklärte in einem seiner Werkstücke 16: »Ich für meinen Teil glaube nicht an eine absolute Wahrheit. Die Relativität scheint mir der Wesenskern des Lebens zu sein.« 17
Die Zeremonie der Aufnahme zum zwölften Hochgrad bestätigt diesen relativistischen Ansatz des Freimaurertums. Wenn der Geheime Meister die »Sprossen« vom vierten zum elften Grad »erklimmt«, um in den Grad des Großarchitekten erhoben zu werden, mahnt ihn das Ritual: »Sie müssen nun begreifen, dass Hiram 18den menschlichen Geist symbolisiert, der unablässig nach der Wahrheit strebt.« 19
Genau daran wird man in den »Perfektionsgraden« immer und immer wieder erinnert: Es gibt keine absolute Wahrheit, die dem Menschen zugänglich wäre. Seine Suche vollzieht sich in der Stille und im Geheimen. Der Geheime Meister befindet sich an einem Ort der Meditation, am Grab des Meisters Hiram, er steht vor einer Tür, die er öffnen muss, das heißt, er muss die esoterischen Lehren dieses Grads verstanden und verinnerlicht haben, damit er die der höheren Grade begreifen kann und zu schätzen weiß.
Die Vorstellungen von Gott und der Ewigkeit sind relativ
Daher wird auch die Vorstellung von Gott selbst relativiert. Bei der Zeremonie des Übergangs vom XI. zum XII. Grad hatte ich selbst gehört, wie der Ehrwürdige Meister fragte:
– »Ist der Gott der Christen derselbe wie der, von dem die antiken Mythologien sprechen?«
– »Da Gott nicht erkannt werden kann, ist er zwangsläufig unter den verschiedenen Namen immer derselbe« 20, hatte der Erste Aufseher daraufhin geantwortet.
Als Katholik, der ich inzwischen wieder geworden bin, kann ich nicht die geringsten Gemeinsamkeiten zwischen den ägyptischen, griechischen und römischen Göttern und dem Gott der Bibel feststellen. Und vor allem gibt es für mich nur einen einzigen Gott, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat – und der hatte ganz sicher nichts mit antiker Mythologie zu tun!
Obendrein geht die freimaurerische Wahrheit paradoxerweise davon aus, dass die Seele ewig und zugleich nicht ewig ist . Artikel 3 der Verfassung von »Le Droit Humain«, den der Redner im Rahmen meiner Initiationszeremonie vorgelesen hatte, sagt ausdrücklich: »Die Mitglieder sind unabhängig von allen religiösen Einrichtungen, Organisationen und Glaubensrichtungen, einschließlich des Glaubens an ein Weiterleben oder Nichtweiterleben nach dem Tod . Darüber hinaus trachten sie vor allem danach, ein größtmögliches Maß an moralischer, intellektueller und geistiger Entwicklung für alle Menschen zu erzielen. Der Orden glaubt, dass dies eine Grundbedingung für das Glück ist.« 21
Man sieht, wie ich Schritt für Schritt und unter dem ständigen Einfluss einer radikal relativistischen Doktrin – wenngleich in einer Großloge 22, die sich selbst als deistisch bezeichnet – letztlich meinerseits dem Relativismus verfiel.
Für einen Profanen ist es unvorstellbar, wie beengend der Relativismus sein kann, sobald er als Doktrin daherkommt. Angeblich »befreit« er das Denken, doch in Wirklichkeit lässt er es erstarren, denn die Wahrheit zu relativieren heißt letzten Endes, an gar nichts mehr zu glauben: nicht einmal mehr an etwas, das sich unseren Augen und unserem Herzen so offensichtlich darbietet wie die Liebe Gottes, der für uns am Kreuz gestorben ist.
Das unüberwindliche Paradox einer relativen Wahrheit
Dennoch strebt der Weg des Eingeweihten der Einheit entgegen – einer Einheit jedoch, die außer Reichweite ist, wie die Erklärung des Redners bei der Zeremonie der Zulassung zum XXX. Grad beweist: »Die höchste Initiation hat Sie auf die Stufe der Dualität geführt, die überall auf diesem Areopag 23symbolisiert wird. Doch wehe, Ritter, alles auf dieser Welt endet hier. Auf dieser Stufe müssen Sie zwangsläufig handeln. Eine höhere Stufe können Sie sich lediglich vorstellen: die Stufe des Absoluten, wo sich die Dualität in Einheit auflöst […]. Ihr Handeln kann sich von der Vorstellung der Einheit lediglich inspirieren lassen.« 24
Die Vorstellung von einer solchen höheren Ebene – der »freimaurerischen Dreiheit« – findet sich beispielsweise auch im Musivischen Pflaster wieder. In meinen Jahren als Mitglied der blauen Loge und vor allem als Lehrling bekam ich von den älteren Meistern des Öfteren zu hören, dass zwischen den weißen und den schwarzen Kacheln eine rote Linie verlaufe, die »dünner als eine Rasierklinge« sei. 25Genau genommen handelt es sich um eine Art »Synthese« der beiden dualen Pole, die der freimaurerischen Lehre zufolge für den Menschen ebenso unerreichbar ist wie die Wahrheit. Ich begriff die Bedeutung dieses unsichtbaren symbolischen Bildes erst später, als ich Geselle geworden und insbesondere, als ich zum Grad des Meisters aufgestiegen war und den Sinn der »freimaurerischen Dreiheit« verinnerlicht hatte, die im ersten Grad gelehrt wird. 26
Vom Grad des Meisters an weiß sich der Eingeweihte dieser Dualität zu bedienen und nutzt sowohl das Gute als auch das Böse, sowohl die Finsternis als auch das Licht, um seinen Weg zu finden. Im Gegensatz zum Christen, der sich trotz seiner Unvollkommenheiten und trotz der Hindernisse des Lebens bemüht, dem Weg des Lichts und der Wahrheit Christi – dem Weg zum Guten – zu folgen, schreitet der Eingeweihte auf dem Weg des Guten und gleichzeitig des Bösen voran. Das bestätigt sich bei der Feier der Erhebung zum XXX. Grad, die die Hierarchie der symbolischen Hochgrade abschließt.
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