Ich versuchte nicht, meine Neugier zu verstecken. Ich duckte mich etwas, um durch die Windschutzscheibe zu blicken und sah es sofort. Ein mehrstöckiges Haus, das in die Bergwand hineingebaut war, mit weißen Wänden, einem roten Terrakottaziegeldach. Torbögen hoben sich in einer klaren Linie ab.
„Von hier habe ich alles gut im Blick“, sagte er.
Ich hatte keinen Zweifel, dass Cristiano seine Augen überall hatte.
Wie sich herausstellte, verlief die Hauptstraße nicht direkt zum Fuß des Berges. Wir umfuhren die Eingrenzung eines großen Platzes, nicht unähnlich dem, von dem wir gerade kamen, in dessen Mittelpunkt ebenfalls eine Kirche stand. Ich ließ mich aber nicht täuschen. Diego und Tepic hatten durchblicken lassen, dass die Geschäfte und harmlosen Büros hier der Geldwäsche dienten. Die Kirche könnte ein Scheingebäude sein oder einfach nur ein grausamer Witz über falsche Hoffnung in einem gottlosen Land.
Jemand hatte Stände errichtet, genauso wie daheim, obwohl die meisten ihre Waren einpackten und der ein oder andere Stand im Regen alleingelassen wurde. Ein paar Kindern liefen barfuß von Bude zu Bude, hüpften auf und ab mit den Händen wie eine Schale geformt. Sie zogen an den Kleidern der Frauen, die gerade alles einpackten, von angemalten Figuren aus Holz bis hin zu Talavera Kacheln und bunter Kleidung.
„Sie hätten gern Schokolade“, sagte Cristiano.
„Sehr traurig.“
„Traurig?“, fragte er. „Sie wollen doch nur Oster Süßigkeiten.“
Komischerweise trugen die Frauen bunte Kleider und hatten ihre Stände und Buden mit Blumen geschmückt, sowie mit roten, weißen und grünen Krepp-Bändern und dazu passenden Wimpeln. Die Mülltonnen waren randvoll mit Papptellern und Plastiktrinkbechern, sodass es aussah, als kämen wir gerade zum Ende eines Festes an.
„Fahr rechts ran“, sagte Cristiano und der Fahrer parkte am Straßenrand. Cristiano öffnete seine Tür und lief auf die Frau zu, die Kleidung von den Bügeln nahm und sie gefaltet in eine Kiste legte.
Als sie sah, wie er auf sie zukam, trat sie einen Schritt zurück und winkte ihn mit der Hand weg. Er hielt ihr etwas hin, schnappte sich ihre Hand und drückte es in ihre Handfläche, dann ging er von einer gelben Decke in die Hocke, auf der lederne Huarache Sandalen lagen.
Ich hatte keine Ahnung was er da tat, aber die Frau war offensichtlich dagegen.
Cristiano kam zurück, sein Hemd war fleckig von den Regentropfen. Er setzte sich neben mich und reichte mir ein Paar braune Ledersandalen.
„Die sind bequemer“, sagte er.
Ich nahm sie, denn ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich drehte und wendete sie in meinen Händen, bewunderte das detaillierte Handwerk und die gute Lederqualität. Er sah nach vorn, als wir weiterfuhren und sah nicht so aus als ob er einen Dank von mir erwartete.
„Die sind sehr gut verarbeitet“, sagte ich. „Sie sehen teuer aus.“
„Maricela versteht ihr Handwerk. Ich habe ihr gesagt, sie soll mehr verlangen, aber sie weigerte sich, also habe ich ihr das Doppelte bezahlt.“
„Du hast sie bezahlt?“
„Natürlich.“ Er sah herüber und fuhr mit dem Finger über die Ledersohlen. „Sie erinnern mich an die Sandalen, die du getragen hast … als du noch klein warst.“
Ah. Ja. Ich umklammerte den weichen Lederriemen. Sie waren eine subtilere, erwachsene Version der geflochtenen Sandalen, die ich immer getragen hatte, die schon dunkel gewesen waren vor Schmutz und Sonne und von denen sich bereits ein paar Lederfäden gelöst hatten.
„Meine Mutter hat sie nicht leiden können. Sie sagte …“ Ich hielt inne. Ich hatte diese Sandalen an dem Tag getragen, an dem ich Cristiano in ihrem Schlafzimmer vorgefunden und sie sterbend auf dem Boden gelegen hatte.
„Was hat sie gesagt?“
„Nichts.“ Cristiano hatte es nicht verdient, dass ich meine Vergangenheit mit ihm teilte. Ich lehnte mich vor und zog die Sandalen an. Sie waren tatsächlich genau wie die, die ich getragen hatte bis sie sich fast auflösten und meine Mutter mich damit aufgezogen hatte, dass ich nur einen Schritt davon entfernt gewesen wäre, barfuß herumzulaufen. „Gar nichts.“
Das Auto fuhr in Serpentinen die Bergstraße hoch und bog dann auf eine bogenförmige Auffahrt zu Cristianos Haus ab. Bei näherer Betrachtung besaß das weiße, im spanischen Kolonialstil gebaute Haus schmiedeeiserne Fenstergitter, und es gab einen Weg aus Stein, der zu einer Rundbogentür aus massivem, dunklem Holz führte.
„Du hast kein Tor?“, fragte ich, als wir parkten. Jeder aus dem Ort könnte hier hochwandern und direkt vor der Tür stehen.
„Warte hier“, sagte er, nahm sein Jackett vom Sitz und stieg aus.
Ich lenkte meinen Blick vom Haus und sah zu der Klippe dahinter, auf der es stand. Tönerne Dachflächen, Gebäude aus Stein, Grün und Wüste umgaben den Ort. In der Mitte waren Geschäfte und viel Betrieb rund um die Hauptstraße, über die wir gekommen waren, und von dort aus führten Straßen zu vereinzelten Wohngebieten ab.
Eine schlanke Frau mit zarten, elfengleichen Zügen und langem, rotbraunem Haar kam die Stufen vor der Haustür herab, um Cristiano zu begrüßen. Er übergab ihr sein Jackett, berührte ihre Schulter und zeigte auf das Auto. Sie wickelte ihr außergewöhnlich dichtes Haar zu einem Knoten auf dem Kopf, nickte und ging zum Kofferraum.
Cristiano öffnete die Tür und bot mir die Hand zum Aussteigen an.
„Das ist Jazmin“, sagte er, als ich aus dem Land Rover stieg. „Sie wird sich um deine Sachen kümmern.“
Die Frau und ich sahen uns an. Sie war unbestreitbar schön und ungefähr in meinem Alter. Wie war sie hier hergeraten? Ich suchte nach Anzeichen von Misshandlung. In ihren sauberen, gebügelten Hosen und der weißen Bluse, ohne irgendwelche Anzeichen von Trauma, wirkte sie beinah normal.
Jazmin neigte den Kopf. „Herzlich willkommen, Señora.“
„Ich kann meine Taschen selbst tragen“, sagte ich Cristiano. „Sie muss das nicht machen.“
„Jaz hat in den letzten Tagen alles für dich vorbereitet“, sagte er. Ich schob mir ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren und strich mir das Kleid glatt. Sogar ohne Absätze an den Schuhen ging das Kleid gerade so bis auf den Boden. „Warum trage ich dieses Kleid?“
Cristiano sah von mir zu Jazmin. „Entschuldige. Natalia hat anscheinen ihre Manieren vergessen.“
Meine Wangen wurden heiß. Ich hatte auf ihre Begrüßung nicht reagiert, dabei war sie nicht mein Feind. „Es ist schön, dich kennenzulernen“, sagte ich zu ihr, als sie meine Taschen aus dem Kofferraum holte und sich das Kleid meiner Mutter über den Unterarm hängte.
Cristiano führte mich die Treppen zu der stabilen Tür aus Holz und Eisen hoch. Der geflieste Eingangsbereich hatte eine hohe, mit dunklen Balken durchzogene Decke und die Rundbogenfenster hätten an einem sonnigen Tag den Raum erhellt. Stattdessen war ein von der Decke hängender Kronleuchter aus Schmiedeeisen angeschaltet, der zu dem Treppengeländer passte. Die Setzstufen der Treppe waren blau und orange angemalt.
Jaz betrat hinter uns das Haus. „Wir mussten alle ins Esszimmer bringen, wegen des Regens.“ Sie lächelte ihn ein klein wenig an. „Es ist ein bisschen eng, aber das merken sie gar nicht.“
„Betrunken?“, fragte er.
„Sehr. Aber extrem neugierig.“
„Zweifellos“, sagte Cristiano. „Ich führe Natalia kurz herum und dann kommen wir zur Party.“
Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. „Party?“ Mein Leben zerfiel in Stücke und Cristiano wollte feiern? „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Muss etwas gewaschen werden?“, fragte mich Jaz und schob sich den Riemen meiner Tasche auf ihrer Schulter hoch.
„Ich … was? Ich kann selbst auspacken“, sagte ich und ging einen Schritt auf sie zu. „Ich werde einfach auf mein Zimmer gehen, wenn du es mir zeigst …“
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