Cristiano nahm meinen Ellbogen und zog mich zurück zu ihm. „Jaz hat alles unter Kontrolle. Ich will dich jetzt an meiner Seite haben. Sie haben sich alle sehr viel Mühe gegeben für diesen Abend. Du wirst mit mir die Runde machen.“
Meine Lippen formten sich zu einer Linie. „Du kannst mich nicht dazu zwingen Spaß auf einer Party zu haben.“
Er drehte sich so, dass ich Jaz nicht mehr sah und legte seinen Mund an mein Ohr.
„Hab Spaß oder nicht“, sagte er leise. „Aber du wirst tun, was ich dir sage und du wirst mich vor niemanden mehr infrage stellen. Jaz hat dich etwas gefragt, antworte ihr.“
Er stellte sich wieder aufrecht hin und ich blickte in Jazs nicht lesbares Gesicht. Das Letzte, was ich wollte, war unhöflich zu jemanden sein, der sich vielleicht in einer noch schlimmeren Situation befand, als ich. Aber nur wenige Stunden nachdem mein Leben zerstört worden war, zu einer Party gezwungen zu werden, fühlte sich grausam an.
„Meine Sachen sind sauber“, sagte ich zu Jaz. Ich hatte daheim alles gewaschen, bevor ich gepackt hatte. „Außer …“ Ich sah zu dem kaputten Hochzeitskleid über ihrer Schulter. Selbst wenn der zarte Spitzenstoff repariert werden könnte, worin lag der Sinn?
„Außer?“, fragte sie nach.
„Schon gut. Es ist alles sauber.“ Ich räusperte mich. „Dankeschön.“
„Sehr gern.“ Jaz ging die Treppe hoch. Oben sah sie noch einmal zurück zu mir, bevor sie durch einen Rundbogen in einem Flur verschwand.
„Es wird das Personal glücklich machen, dass du glücklich bist, hier zu sein. Und wenn mein Personal glücklich ist, bin ich es auch.“
„Aber das bin ich nicht.“
Seine Haltung wurde etwas lockerer, als er ausatmete. Er hob mein Kinn, bis unsere Münder sich so nah waren, dass er mich ganz leicht küssen könnte, wenn er das wollte. „Dann täusche es ihnen zuliebe vor.“
Er benetzte sich die Lippen und mein Blick fiel darauf. Schnell drehte ich meinen Kopf weg.
„Warum sollte ich?“
„Ich habe dir bereits gesagt, warum. Es macht mich glücklich. Und du willst, dass ich glücklich bin.“ Er drehte meinen Kopf zurück und wartete, bis ich ihm wieder in die Augen sah. „Aber wenn das für dich kein guter Grund ist, dann tu es, weil ich es dir befehle.“
Ich hatte das Gefühl, dass ich mich an diese Antwort gewöhnen musste. Aber wenn ich seinen Willen ertragen musste, dann musste er auch mich ertragen. Ich musste nicht einen auf nett machen, wenn wir allein waren. „Einverstanden. Es wird eine gute Übung sein.“
„Für?“
„Vorzutäuschen was ich nicht mag.“
Er verzog die Lippen auf eine Art, die ein Grinsen hätte sein können. Bevor ich entscheiden konnte, ob er amüsiert oder verärgert war, hörte ich Schritte hinter mir. Cristiano ließ mich los und trat einen Schritt zurück.
Die beiden Wachleute, die in der Kirche an Cristianos Seite gestanden hatten, kamen herein. Wir liefen alle einen Flur entlang, vorbei an einer langen hölzernen Bank mit erdfarbenen Sitzkissen, in einen offenen Wohnbereich, der sich zu einem Esszimmer hin öffnete. Aber dort hielt sich niemand auf, also musste es ein anderes Zimmer sein, als das, von dem Jaz gesprochen hatte. Obwohl der kantige spanische Stil der Alten Welt den aufgeräumten Raum dominierte, gaben ihm die Töpferwaren über dem alten Kamin, die gold- und kastanienfarbene Tapete an der Wand zum Esszimmer und die großen Pflanzen in Keramikübertöpfen, ein einladendes Ambiente. An den Balkontüren hingen zarte, durchsichtige weiße Gardinen, die halb zugezogen waren und man konnte eine Terrasse mit bequemen Gartenmöbeln, sowie einen Pool draußen erkennen, auf dessen Wasseroberfläche Regentropfen Kreise formten.
Die Küche sah bewohnter aus. Und weniger zu Cristiano passend. Dunkelorangene Wände, kornblumenblaue Jalousien und ein Holztisch in der Farbe von grünem Tee. Eine untersetzte Frau griff nach einem Tablett mit Häppchen auf der Arbeitsplatte und es war nicht möglich die schlimmen Brandnarben entlang ihrer Arme zu übersehen. Kurz warf sie mir einen Blick zu, bevor sie einem Mann mit einer Kochmütze auf dem Kopf Platz machte.
Cristiano zeigte mit einer Geste in den Raum und ratterte Namen herunter die mir in ein Ohr hinein und zu anderen wieder herausrauschten. Mein Verstand war am Limit seiner Kapazität für heute angelangt.
„Fisker ist der Chefkoch“, fügte er hinzu.
Ein dürrer, blonder Mann stand an einem riesigen Topf und nickte mir zu.
„Fischeintopf?“, fragte er.
Ich sah zu Cristiano, der mich fragte: „Bist zu hungrig?“
„N… nein“, sagte ich zu Fisker. Er sah nicht gesund aus. Niemand hier sah gesund aus. Wo kamen sie nur her? „Aber, Danke.“
Cristiano wandte sich ab, um zu gehen, aber beugte sich zu mir. „Lass dich von seiner mageren Erscheinung nicht täuschen. Er war Fischer in Dänemark und kennt sich genauso gut mit Essen aus, wie jeder andere renommierte Küchenchef, den ich getroffen habe.“
Cristiano deutete mir mit einem Nicken an, ihm zu folgen und wir waren wieder in Bewegung. Einen anderen Flur entlang, vorbei an Türen und kleinen Fenstern. Ich meinte Stimmen und Musik wahrzunehmen, doch erst als Cristiano eine der Türen öffnete und eine Kakofonie aus Singen, Rufen und Mariachi erklang, fühlte ich mich überwältigt.
„Schalldichte Zimmer“, erklärte Cristiano den rapide angestiegenen Lärmpegel. „Eine meiner besten Investitionen in diesem Haus. Die Party kann wüten und toben, während ich, oder wir, schlafen. Oder wir können wüten und toben, während sie dinieren.“
Sein Ton war neckend, aber ich bezweifelte, dass er einen Witz gemacht hatte. Er legte seine Hand auf meinen unteren Rücken und geleitete mich in eine dunkle Nische. Wir gingen durch einen Türbogen auf die oberste Ebene einer Treppe, als würden wir uns auf den Weg in einen Keller begeben. Auf halbem Weg nach unten hielten wir an und konnten den ganzen Saal überblicken. Alte Holzbalken formten ein X an der hohen Decke und Wandleuchter warfen Schatten an die weißen Wände. In der Mitte des Raums standen lange, stabile Tische, an denen Leute saßen und von einem Buffet wie in einem Restaurant, aßen.
Auf der einen Seite eines großen Tisches saß eine Gruppe von Frauen zwischen Kindern vor Tellern mit Torte darauf. Ihre langen Röcke und Kleider ähnelten denen der Frauen in meinem Ort, in der Kirche heute früh. Sie stibitzten Kuchen von den Tellern der Kinder und lachten miteinander über den Tisch.
Cristiano drängte mich an meinem Rücken voran. Und auch wenn meine Hände jetzt nicht wirklich zusammengebunden waren, fühlte es sich an, als schritt ich über die Schiffsplanke.
„Das ist jetzt dein Zuhause“, sagte er und nahm seine Hand von mir. „Diese Menschen sind deine Leute.“
Wie sind sie nur in diese Situation geraten?
„Sie feiern einfach nur Ostern.“
Ich sah zu ihm und mir war nicht klar, ob ich laut gesprochen hatte. „Ostern? Hier?“
„Es ist ja nicht so, als hätten wir das Land verlassen. Wir feiern immer noch die Feiertage hier.“
Aber alles, was über das grundsätzliche Überleben hinausging, wäre Luxus für Menschen, die gegen ihren Willen festgehalten und zum Arbeiten gezwungen waren. Und sie waren gefangen hier, oder? Die Alternative wäre, dass sie freiwillig in den Badlands lebten. Als eines von Cristianos Opfern konnte ich einfach nicht verstehen, wie das sein konnte.
„Glaubst du Menschen in Not essen Kuchen?“, fragte er, als könne er meine Gedanken lesen.
Vielleicht, wenn es das Beste war, was sie aus ihrer Situation machen konnten.
Das Herz wurde mir schwer. Ich sollte bei meinem Vater sein, mich gerade zum Osterfest hinsetzen oder in einem Flugzeug zurück zu meinen Freunden und meinem Leben in Kalifornien sitzen. Stattdessen war ich umringt von den Verlorenen und Vergessenen.
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