Dennoch. Der Mensch, den ich liebte, der Mann, für den ich gewillt war mich meinem Vater zu widersetzen, und ihn zu heiraten hatte zugelassen, dass ich am Altar auf einen anderen Mann traf. Und nicht nur irgendwen anderen. Nein, seinen grausamen, notorisch gewaltsamen Bruder.
Ob es Diego leidtat? Wie lange hatte er davon gewusst?
Mein Kinn zitterte, aber ich unterdrückte es, in dem Versuch mich zusammenzureißen. Verflucht sollte Diego sein, dass er mich in diese Situation gebracht hatte. Und verflucht sollte ich selbst sein, dass ich versuchte noch einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen.
Cristiano warf die Anzugjacke auf den Sitz neben mir und setzte sich hinter den Fahrer.
„Warum schert es dich, wo mein Bruder steckt?“, fragte er, wobei er die Trennscheibe zwischen dem Fahrer und uns hochfuhr.
Ich drehte mich zu ihm. „Er war mein Bräutigam.“
„Diego hat dich aufgegeben, um seinen eigenen Arsch zu retten. Er ist deine Aufmerksamkeit nicht wert.“ Cristiano betrachtete mich aufmerksam, während wir losfuhren. „Du solltest mir dafür danken, dass ich eingeschritten bin.“
Ihm danken? Mein Blut begann zu brodeln. Zwischen unserer Vereinigung und Cristianos Menschenhandelsgeschäften bezweifelte ich, dass es irgendetwas gab, was er nicht sich selbst gegenüber rechtfertigen konnte.
„Du hast ihm keine andere Wahl gelassen.“
„Man hat immer eine Wahl.“ Cristiano zog an ein seinem Hemdsärmel und hielt mir den Arm hin. „Würdest du bitte?“
Ich sah auf seine Hand. „Was?“
„Meine Manschettenknöpfe.“
Langsam fuhr unser Wagen über den mit Pappmaché Figuren, bunten Wimpeln und Blumensträußen dekorierten Marktplatz. Männer mit Sombreros und Frauen in den traditionellen uralten Trachten mit geflochtenen Körben auf ihren Köpfen gingen zur Seite, versuchten einen Blick durch die getönten Scheiben zu erhaschen. Manche von ihnen schimpften über die Störung. Man durfte hier eigentlich nicht durchfahren.
„Die kannst du dir selbst ausziehen“, sagte ich.
„Aber ich bitte dich darum.“
War eine Bitte von Cristiano wirklich eine Bitte? Ich hörte die Forderung in seinem Tonfall. Zögerlich zog ich sein Handgelenk zu mir und den silbernen Stift eines geriffelten Manschettenknopfes aus seinem Loch.
„Was hättest du an Diegos Stelle getan? Oder meiner?“, fragte ich. „Wobei ich annehme, dass du die wahre Liebe kennen müsstest, um tatsächlich zu verstehen, wie weit du dafür gehen würdest.“
„Ich sollte dich warnen, dass sich jedes Mal, wenn du den Namen meines Bruders in den Mund nimmst, ein Bild vor meinem geistigen Auge aufbaut. Eins, das ich nicht leiden kann. Also wirst du, außer du möchtest mich provozieren, seinen Namen nicht mehr aussprechen.“
Sein Ärmel hing offen herab. Mit einem Nicken gab er zu verstehen, dass ich ihn hochkrempeln sollte. Also tat ich es. Meine Finger glitten dabei über eine Ader auf seinem kräftigen, mit dunklem Haar bedeckten Unterarm.
„Was für ein Bild?“
Sowie ich den Ärmel an seinem Ellbogen ein letztes Mal umgeschlagen hatte, reichte er mir seinen anderen Arm.
„Wenn ich es ausspreche, könnte mich das wütend machen. Nicht sehr weise, wenn du mit mir hier hinten eingesperrt bist.“
Diegos Name könnte eine Erinnerung für Cristiano beschwören, die auch mich verfolgte. Vor elf Jahren hatte Diego seinen Bruder beschuldigt meine Mutter ermordet zu haben, obwohl er wusste, dass es Cristiano das Leben kosten könnte. Diego hatte Gerechtigkeit über die Familie gestellt und im Kartell wertete man es wie die ultimative Todsünde die Familie zu verraten. Ich konnte Diego noch immer glasklar vor mir sehen, wie er die Waffe auf Cristiano und mich gerichtet hielt, wobei ich nicht diejenige gewesen war, die er erschießen wollte.
Ich entfernte den anderen Manschettenknopf und hielt die Teile aus Silber in meiner Hand.
„Ich glaube ich habe noch nie einen Mann gesehen, der sich so sehr im Griff hat wie du in dieser Kirche“, sagte ich, um zu testen, ob ich ein kleines bisschen hinter seine Fassade schauen könnte. „Und jetzt bist du wütend. Was hat sich geändert?“
Jetzt war es an ihm sich umzudrehen und aus dem Fenster zu schauen. Cristiano musste nicht auf irgendeine meiner Fragen antworten und das machte seine Antworten zu etwas Wertvollem. Egal welches Thema, alles Mögliche könnte man als einen Hinweis auf den Mann hinter der Calavera Maske deuten. Wer war Cristiano? Wovor könnte sich ein Mann, der so kalt und abgestumpft war, fürchten? Sehnsucht? Liebe?
Und warum interessierte mich das überhaupt?
Information. Es gab eine Zeit da waren Informationen das einzige Laster gewesen, für ein Mädchen wie mich, dessen Familie sie unter dem Vorwand sie zu schützen im Dunkeln hielt. Später, als ich alles, was mit diesem Leben zusammenhing, vergessen wollte, waren sie eine Bürde. Jetzt könnten sie das Einzige sein, das mich vielleicht rettete. Es wäre leichter meinen Feind zu überleben, wenn ich wüsste, was er wollte. Was er erwartete. Was ihn antrieb.
Nicht nur um ihn zu überleben, sondern ihm vielleicht sogar zu entkommen.
Durch die Macht, die er über die Leben der Menschen, die ich liebte, verfügte, war ich bildlich gesprochen an Cristiano gekettet. Ich konnte nicht davonlaufen. Aber das bedeutete nicht, dass es keine Möglichkeiten gab, mich von ihm zu befreien.
Ich zog meine Fingerspitze über die weiche Haut an Cristianos Handgelenk, sachte genug, dass es aussah, als wäre es keine Absicht gewesen.
„Was hat dich wütend gemacht?“ Ich ließ nicht locker.
Für einen Moment sah er weiter aus dem Fenster, dann drehte er sich zu mir. „Eifersucht ist mir neu. Aber ich lasse nicht mehr zu, dass Emotionen mich beherrschen. Also war ich in der Lage es in der Kirche zu kaschieren.“
Eifersucht?
Ich behielt einen neutralen Gesichtsausdruck, um zu tarnen, dass ich überrascht war. Über beides, seine Antwort und dass er mir überhaupt geantwortet hatte. Vielleicht hätte es mich nicht so überraschen sollen. Cristiano hatte erwartet, dass ich noch jungfräulich war. War er darüber aufgebracht, dass er mich mehr oder weniger wie ein gebrauchtes Kleidungsstück von seinem Bruder geerbt hatte? Oder war es der primitive Drang eines Ehemanns, der der Erste für seine Frau sein wollte?
Er hatte gedroht Diegos Hände abzutrennen, wenn er mich berühren sollte. Doch was hatte Cristiano sich denn vorgestellt? Er war in meine feste Beziehung zu Diego hereingeplatzt. Er hatte unsere Hochzeit gesprengt.
Er hatte gewonnen.
Als er nach meinem Fuß griff, machte ich seinen Satz rückwärts.
„Tun dir die wegen den Schuhen die Füße weh?“, fragte er und zog meinen Fuß auf seinen Schoß. „Oder wegen den Schnittverletzungen?“
Mein Herz schlug heftig und ich bekam Gänsehaut auf den Armen. Ich durfte nie vergessen, dass Cristiano mich einfach berühren konnte. Und dies auch tat. Jeden Moment. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Tür, sodass ich ihn ansah. „Die Schnitte sind fast verheilt.“
„Du hattest einen guten Arzt.“ Sein Mundwinkel hob sich, während seine Finger mit der filigranen Schnalle am Stiletto kämpften. Vor ein paar Tagen wurde meine Angst vor Cristiano davon überlagert, wie er zartfühlend mit einer Pinzette Glassplitter aus meinen Fußsohlen entfernt hatte. Statt meine Situation auszunutzen, hatte er mir geholfen.
Wir fuhren aus der Stadt und auf die zweispurige Schnellstraße. Umgeben von der Wüste bewegten wir uns auf Gewitterwolken zu, die sich vor uns auftürmten. Ich verschränkte die Arme.
„Du bist Arzt, Entführer und Ehemann in einem. Ich Glückspilz.“
„Sag das nochmal.“ Er warf meinen Schuh beiseite und hielt meinen Blick. „Ich mag es, wie sich das Wort aus deinem Mund anhört.“
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