Einer von Wielands Briefen war besonders beunruhigend. Vor dem Hintergrund seines bevorstehenden Aufbruchs vom Basislager schrieb der rücksichtsvolle Mann vorzeitige Geburtstagsglückwünsche an meinen Vater, lange vor dem eigentlichen Tag, dem 5. Juli: „Bevor ich diese glorreiche Stätte vielleicht auf Nimmerwiedersehen, jedenfalls für einige Tage und hoffentlich für mindestens vier, höchstens sechs Wochen in höhere Regionen verlasse, will ich dir zu deinem Geburtstag noch gratulieren.“ 164Wieland fügte hinzu, dass es ein motivierendes Motto der Nanga-Parbat-Expedition sei, „… dem Fortschritt [in Richtung Gipfel; Anm.] alles zu opfern!“ 165Dieses Opfer sollte größer sein, als er es vorhersehen konnte. Kaum mehr als einen Monat später war Wieland tot.
Am 7. Juni bereitete sich das Team auf den endgültigen Gipfelaufstieg vor, nachdem sie Lager 1, 2, 3 und 4 am Berg eingerichtet hatten. 166Aber obwohl die Briefe an meinen Vater optimistisch klangen, dass man den Gipfel erreichen würde, strahlten sie keine Freude aus. Organisatorische Probleme hatten das Errichten von Lager 4 verzögert und Merkls Führungsfähigkeit bei ihrer Lösung gab Anlass zu Zweifeln. 167Selbst das offizielle Expeditionsbuch, ansonsten ein unkritischer Bericht, wies einige Male auf das autoritäre und wütende Verhalten Merkls hin. 168Die Konflikte spitzten sich zu, als ein Bergsteiger starb. Am 8. Juni erlitt Alfred Drexel in Lager 3 plötzlich ein Lungenödem 169und alle Rettungsversuche scheiterten. Merkl beorderte die gesamte Mannschaft zurück ins Basislager, wo sie sich voller Entsetzen und Trauer zum Begräbnis versammelte. Am Nachmittag des 11. Juni bettete der lange Trauerzug der Männer Drexel zur letzten Ruhe. Während der Zeremonie, die einem Soldatenbegräbnis glich, sprach Merkl davon, „… ganz im eisernen Kampfeswillen unseres Toten … weiterkämpfen [zu] wollen“. 170In einem nachfolgenden Brief an Hoerlin schilderte Wieland voller Trauer den Tod Drexels und kündigte an, „Frau Dr. Schmid wird Dir umgehend einen Nachruf für die Mitteilungen des DuOeAV schicken; bitte besorge ihn gleich.“ 171
Aufstieg durch die drohenden Seracs des Nanga Parbat ins Lager 2
Die Leiche Alfred Drexels, eingehüllt in die Hakenkreuzfahne – ein nachhaltiges Symbol der Politisierung des Bergsteigens (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)
©Deutscher Alpenverein, München
Fotos der in eine Hakenkreuzfahne eingehüllten Leiche Drexels gingen um die Welt und wurden zu einem sofortigen und lebhaften Zeichen der Nazifizierung des deutschen Bergsteigens. 172Merkl hatte darauf bestanden, dass Fotos und Filmaufnahmen von der Bergung der Leiche und dem anschließenden Begräbnis gemacht wurden.

Noch lachen die Sherpas in Lager 4. Später zählten sie zu den Opfern der Expedition .
Dieser publikumswirksame und politische Umgang mit Drexels Tod ließ Schneider auf die Barrikaden gehen. Aufs Schärfste kritisierte er Merkl für diese von ihm so empfundene Respektlosigkeit – und sprach damit auch für andere Mitglieder der Expedition. Sein direkter Angriff auf Merkls Autorität machte diesen so wütend, dass er drohte, Schneider vom Berg zu verbannen. Schneiders Ärger wiederum ging so weit, dass er hinterfragte, ob Merkl den Tod Drexels aus kommerziellen Gründen filmen wollte, da Merkl den Nationalsozialisten einen inspirierenden Film versprochen hatte. 173Wie die meisten Nanga-Parbat-Bergsteiger lehnte Schneider den Nationalsozialismus ab, tolerierte aber mit Blick auf die bergsteigerischen Ziele den nationalistischen Einschlag der Expedition. 174Doch der Fall Drexel überschritt für ihn die Toleranzgrenze.
Die Stimmung in der Expedition verbesserte sich durch die fast einmonatige Verzögerung zwischen dem ersten Versuch am 7. Juni und dem Aufbruch von Lager 4 zum zweiten Versuch (am 1. Juli) nicht gerade. Der vorgebliche Grund für die lange Pause im Basislager war das Warten auf den Nachschub von Tsampa, geröstetem Gerstenmehl, einem unverzichtbaren Bestandteil der Ernährung der Sherpas. Einer von vielen Nachteilen einer Großexpedition war die Notwendigkeit, für die vielen Teilnehmer ausreichend Verpflegung zu stellen – was einen entsprechenden logistischen Aufwand nach sich zog. Der Vorrat an Tsampa war zur Neige gegangen und die Sherpas rührten sich nicht von der Stelle, bevor er nicht wieder aufgefüllt war. Es dauerte 17 Tage, bis Tsampa ins Basislager geliefert wurde – eine Zeit, in der der Widerstand gegen Merkls Führung gärte. Das Wetter war sonnig, der Himmel wolkenlos. Wertvolle Zeit wurde vergeudet.
Die Route durch den Rakhiot-Eisbruch führte über zerbrechliche Schneebrücken und tiefe Spalten .
Die Spannungen zwischen Schneider und Merkl hielten an. Und in vertraulichen Briefen an die Heimat schrieb der stellvertretende Expeditionsleiter Willo Welzenbach von tiefgreifendem Ärger über Merkl: „Merkl handelt zunehmend wie ein Diktator, der keine Kritik zulässt. Er scheint wirklich zu glauben, dass eine feste und kompromisslose Haltung seine Autorität festigen und seinen Minderwertigkeitskomplex, den er als Emporkömmling offensichtlich fühlt, unterdrücken könnte.“ 175Zum Abschluss seiner Schmähschrift stellte Welzenbach vernichtend fest, Merkl sei „seiner Führungsrolle seelisch nicht gewachsen“. 176Es waren keine rosigen Voraussetzungen für einen Gipfelversuch jeglicher Art, erst recht nicht für einen zweiten und möglicherweise entscheidenden. Trotzdem wurden in der ersten Juliwoche nacheinander die Lager 5, 6 und 7 errichtet. 177
Es war die Zeit, um zu prüfen, „ob es menschenmöglich war oder nicht, auf den Gipfel zu kommen“, wie Käthe Schmid am 2. Juli an Merkl schrieb. 178Im Lager 7 drängten sich insgesamt 19 Männer – 13 Sherpas und 6 Sahibs – auf einer schmalen Schneeplattform in 7050 Metern Höhe. Als zwei Sherpas krank wurden, begleitete sie Fritz Bechtold hinab, während die anderen am nächsten Tag, dem 6. Juli, angeführt von den beiden Österreichern Schneider und Aschenbrenner, weiter Richtung Gipfel vorstießen. Beide gelangten bis unterhalb des Vorgipfels (7910 m). 179Ein letzter zerscharteter Felskamm führte jenseits davon zum Hauptgipfel. Anschließend warteten beide geraume Zeit auf die nachfolgende Hauptgruppe. 180Die munter jodelnden Tiroler verspürten keine Müdigkeit. Sie waren sich sicher, den Nanga-Parbat-Gipfel zu erreichen. Er schien in greifbarer Nähe, aber der Geist der Gemeinschaft hielt sie davon ab, weiterzugehen. Schneider hatte zuvor Merkls Autorität gestört, doch diesmal ordnete er sich ihr unter und wartete, während die übrigen drei Bergsteiger und elf Sherpas mit ihren Lasten langsam nachrückten.
Merkl hatte jedem den Wunsch der nationalsozialistischen Führung eingeschärft, zur Ehre Deutschlands möglichst viele Bergsteiger auf den Gipfel zu bringen. 181Solch ein Plan ging gegen die übliche Vorgehensweise, dass eine flexible und schnelle Zweierseilschaft aus den stärksten Bergsteigern den ersten Gipfelversuch unternimmt. Welzenbach hatte sich bereits abschätzig über diesen Plan geäußert: „Man kann nicht einen Verein von zehn bis zwölf Leuten auf einen Achttausender bringen wollen. Dann kommt eben keiner hinauf. Aber alles Predigen ist hier vergeblich. Willy weiß alles besser.“ 182Als die schwächere zweite Gruppe schließlich zu Schneider und Aschenbrenner aufschloss, entschied Merkl, auf dem weiten Schneefeld des so genannten Silberplateaus in 7480 Metern Höhe Lager 8 einzurichten. Er war überzeugt, dass der Berg am nächsten Tag bestiegen werden würde. Alle 16 Mann verbrachten die Nacht dort, quasi abgeschnitten von jeglicher Unterstützung aus den unteren Lagern, Nachschub oder Hilfe. Zudem litten sie unter Erschöpfung durch die Kletterei in extremer Höhe.
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