In Deutschland war die Besteigung des Nanga Parbat zu einer fixen Idee geworden. So wie die Briten den Everest für sich beanspruchten, sahen die Deutschen den Nanga Parbat als „ihren“ Berg an. 1854 war er von den drei deutschen Brüdern Schlagintweit vermessen worden, und ein erfolgloser Besteigungsversuch unter der Leitung von Merkl 1932 hatte das Interesse der deutschen Öffentlichkeit geweckt. Die Nationalsozialisten sahen im möglichen Erfolg der Nanga-Parbat-Expedition eine Gelegenheit zur weithin sichtbaren Demonstration teutonischer Überlegenheit und Wiedererstarkung nach dem Ersten Weltkrieg. In den Worten des Reichssportministers: „Die Eroberung des Gipfels wird zum Ruhme Deutschlands erwartet.“ 148Andere sahen die Expedition in einem anderen Licht. Mitglieder des Alpenvereins bestanden auf der Wichtigkeit ihrer wissenschaftlichen Forschungen neben den bergsteigerischen Zielen. 149Wiederum andere betonten die „spirituellen Werte“ des Bergsteigens, seine ursprüngliche Verbindung mit der Natur und seine im Grunde apolitische Haltung. 150Diese variierenden Konstrukte – politisch, wissenschaftlich und spirituell – mit ihren innewohnenden Konflikten sollten sich auf tragische Weise auf der steilen und eisigen Bühne des neunthöchsten Berges der Welt erschöpfen.
Die Expedition von 1934, eine zeitgenössische Version der Suche nach dem Heiligen Gral, zog die Aufmerksamkeit der Massen in Deutschland auf sich. Die Medienberichte hatten das öffentliche Interesse entfacht und machten das Unternehmen „… zum weitaus meistpublizierten bergsteigerischen Ereignis in der deutschen Geschichte“. 151Der Alpenverein beabsichtigte umfassende Berichte in seinem monatlichen Rundbrief und bat Hoerlin, der Koordinator aller Mitteilungen an die deutsche und auch an die weltweite Presse zu sein. 152Der designierte Pressesekretär der Expedition war Dr. Willi Schmid, ein eminenter Musikkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten , einer der auflagenstärksten Zeitungen in Deutschland.

Käthe (l.) und Willi Schmid (r.), das Presseteam vom Nanga Parbat, bei einem Abschiedsfest für die Expedition in ihrem Haus (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)
©Deutscher Alpenverein, München
Obwohl er in gewisser Hinsicht eine ungewöhnliche Wahl war, hatte Schmid bereits bedeutende Arbeit als freier Journalist geleistet und würde von seiner Frau Käthe gekonnt unterstützt werden. Um sich um die zahlreichen Einzelheiten der Expedition kümmern zu können, hatte man in der geräumigen Wohnung der Schmids ein Büro eingerichtet, das zu einem zentralen Versammlungsraum für Besprechungen wurde. Das Paar stand Merkl nahe, den Willi durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatte. Käthes Verhältnis zu Merkl war wie das einer etwas älteren (ein Jahr) Schwester: etwas rechthaberisch, warmherzig und kritisch. In ihren Briefen zu Expeditionsangelegenheiten an Merkl wechselt sie zwischen Tadel („Dass sie passierte, ist Deine Schuld“ 153), Fürsorge („Schau, dass Du zu genügendem Schlaf kommst“ 154) und Ratschlag („Ach Bub, das ist’s ja gerade, dass man als guter Führer vor allem u. bei allen ein guter Psychologe sein muss“ 155). Die Sammlung an Briefen umfasst die Zeit von den ersten Vorbereitungen bis zum 2. Juli, als die Bergsteiger ihren zweiten und letzten Gipfelversuch begannen.

Käthe Schmid und Expeditionsleiter Willy Merkl im Büro der Nanga-Parbat-Expedition im Hause Schmid (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)
©Deutscher Alpenverein, München
Die erste Etappe der Expedition begann Anfang Mai, als die Vor- und Hauptgruppe in Kaschmir wieder zusammentrafen. Eine Armee von fast 600 Trägern bewältigte den langen und ermüdenden Anmarsch zum Fuß des Berges, trug Verpflegung und Ausrüstung über tiefe Schluchten, reißende Flüsse, hohe Pässe und ausgedehnte Gletscher. Da nur 400 Sonnenbrillen für die Männer zur Verfügung standen, litten einige noch vor Erreichen des Basislagers am 26. Mai unter Schneeblindheit. 156Zwar hatte die Expedition zuvor schon von verschiedenen Punkten aus Ausblicke auf den Nanga Parbat erhascht, aber am nächsten Morgen enthüllte er sich in seiner vollen Pracht. Die Sahibs waren gebannt vor Ehrfurcht: „Hoch droben am Gipfel … flammt das erste Licht des jungen Tages. Langsam flutet die blendende Helle über die mächtige Steilmauer hinab auf den Gletscher … Wir blicken zu dem Berg auf wie zu etwas ganz Unwirklichem.“ 157

Deutsche Nanga-Parbat-Expedition 1934
©Wikipedia Creative Commons, Welzenbachs Bergfahrten, Berlin 1935
Es schien wenig Gelegenheit zu geben, die Schönheit des Berges zu bewundern oder ruhig darüber nachzusinnen. Postläufer mit ermutigenden Briefen, frankiert mit bunten Briefmarken aus aller Herren Länder, strömten regelmäßig ins Basislager. Fast täglich wurden Meldungen über den Fortschritt der Expedition via Kurzwellenradio, Telegramm oder Pressemitteilung versendet. Schlag auf Schlag berichteten die Nachrichtenmedien vom Geschehen am Berg. Manchmal übertrieben sie die Schilderungen, ein anderes Mal konzentrierten sie sich auf das schlechte Wetter oder Probleme mit den Trägern. Aber generell erzählten die Berichte eine Geschichte von Mut und Kameradschaft. Die Expedition besaß alle Zutaten für packende Nachrichten: eine beängstigende Herausforderung, Gefahren, Triumphe, individuelle Heldentaten und nationales Ehrgefühl.

Nanga Parbat, der deutsche „Schicksalsberg“
Bedauerlicherweise tendierten die Medien dazu, die Expedition und ihre Ziele mit nationalistischen Begriffen zu versehen. Inbrünstig hoffte man, dass die Hakenkreuzflagge auf dem Gipfel des Nanga Parbat wehen würde. Bis 1934 war die deutsche Presse vollständig mit Reportern besetzt worden, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Sie hatten die Arbeitsstellen von Juden übernommen, die durch Hitlers Gesetze entlassen worden waren. 158Ebenso wie die Entlassung von jüdischen Lehrern und Wissenschaftlern wurde der Ausschluss von jüdischen Mitgliedern aus dem Pressewesen ohne Protest akzeptiert; andere standen bereit, von ihrem Weggang zu profitieren – ein Umstand, der „… einen bedeutenden moralischen Verfall“ 159unter den Deutschen signalisierte. Mit missionarischem Eifer stellten diese „Ersatz“-Reporter deutsche Taten unablässig positiv, wenn nicht gar aufgebläht dar, was zahlreiche Leser und Zuhörer an der Zuverlässigkeit ihrer Pressemitteilungen zweifeln ließ – jene über die Nanga-Parbat-Expedition eingeschlossen. Zu den kritischsten Stimmen zählte Erwin Schneider, der sich wie üblich kein Blatt vor den Mund nahm. In einem Brief an Hoerlin schrieb er: „Du wirst ja sicher wie immer am Deutschlandsender hängen und im Übrigen versorgen ja die üblichen Latrinengerüchte das Dritte Reich ausgiebig mit Schauernachrichten. Es ist schon zum Kotzen …“ 160
Nach Erreichen des Basislagers wurde der nicht mehr benötigte Großteil der Träger ausbezahlt und nach Hause geschickt. Zurück blieb eine leichter zu führende Gruppe von 60 Mann. Gemeinsam mit einigen von ihnen brach das dreiköpfige Wissenschaftsteam zu einer Umrundung des Nanga-Parbat-Massivs auf, um eine detaillierte topografische Karte aufzunehmen. 161Die lästige Aufgabe, die Träger für die Besteigung zu organisieren, fiel an Wieland, der die meisten von ihnen ausgewählt hatte und dem sie vertrauten. Oft leitete er Beschwerden der Träger an die Expeditionsleitung weiter. Die logistischen Aufgaben zermürbten Wieland, wie er Pallas in einem Brief gestand: „Große Expeditionen sind schrecklich. Immer ist es das Gepäck, was aufhält. So Gott will, werden wir drei noch einmal eine kleine [Betonung von Wieland] Expedition, aber auch mit großem Ziel, machen.“ 162Schneider hatte zuvor in einem Brief eine ähnliche Sehnsucht ausgedrückt 163und schlug vor, dass die drei Freunde im nächsten Jahr wieder in die peruanischen Kordilleren gehen würden.
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