Ein wesentlicher Punkt für Schneider war, an welcher Expedition seine vertrautesten Partner Pallas und Wieland teilnehmen würden. Obwohl Letzterer ein weniger erfahrener Bergsteiger als Schneider oder mein Vater war, wären seine beständige Heiterkeit, Gelassenheit und Antrieb ein wertvoller Beitrag zur Expedition. Der ruhige Mann hielt sich mit einer Verpflichtung zurück und wusste nicht, wofür er sich entscheiden sollte. 133Im August neigte er dann aber zu Merkl, nachdem er mit ihm in der Schweiz geklettert war. 134Was aber bei Wielands Entscheidung letztendlich den Ausschlag gab, war ein Anruf des Reichssportführers von Tschammer und Osten, in dem er sich dafür aussprach, dass Wieland Merkls Gruppe beitreten solle. 135Es war schwierig, eine Bitte aus den höchsten Reihen der Regierung des eigenen Heimatlandes abzulehnen.
Hoerlin schwankte weiterhin. Er war nicht nur zwischen den beiden Expeditionen hin- und hergerissen, sondern wollte auch seine Doktorarbeit abschließen. Zudem bereitete ihm die Lage seiner Familie in Schwäbisch Hall Sorge. Sein Vater war im September erneut erkrankt und seine Schwester und Mutter mit der Verantwortung für den Familienbetrieb überfordert. Der stets ungeduldige Schneider bat Pallas in Brief um Brief darum, sich endlich zu entscheiden – wobei er mit poetischen Anreden wie „faules Schwein“, „Süßer“ oder „alte Rübe“ nicht sparte. „Lass Dir das alles durch Deinen Krautschädel gehen und schreibe mir möglichst bald Deine Ansicht, die mir immerhin wichtig erscheint.“ 136Den eigenen würdevollen Vater auf so eine Weise angeredet zu lesen, amüsierte mich auch fast 80 Jahre später noch.
Im November fällte Hoerlin seine Entscheidung. Obwohl er Merkls vermeintliches Interesse an wissenschaftlichen Forschungen anerkannte, hinterfragte mein Vater dessen Führungsqualitäten und war über den zunehmenden nationalistischen Unterton der Nanga-Parbat-Expedition beunruhigt. Umgekehrt war er nervös, dass Dyhrenfurth seine Fehler bei der Organisation vom Kangchendzönga im Karakorum wiederholen würde. Doch endgültig entschieden wurde die Sache am 10. November, als sein Vater im Alter von 69 Jahren starb. Der Mann, der ihn wie kein anderer ermutigt hatte, unbekannte Horizonte zu suchen, war nicht mehr. Als mein Vater einmal schrieb, „Es ist ein alter Trieb […] der Trieb in die Ferne, die Sehnsucht in die weite Welt“, 137war dies ein Echo der Gefühle seines eigenen Vaters, der niemals die Möglichkeit hatte, selbst diesem Trieb zu folgen. Adolf Julius Hoerlin hatte die Gabe, sich über die Leistungen seines Sohnes als Entdecker, Bergsteiger und Wissenschaftler auf drei Kontinenten mitfreuen zu können. Doch nun war es Zeit für den Sohn, die Erinnerung an seinen Vater zu würdigen, indem er Verantwortung zuhause übernahm und seiner Mutter und Schwester im Laden aushalf sowie sein Studium abschloss. Vorerst zumindest war die Besteigung eines Achttausenders aus Pallas’ Plänen gestrichen.
KAPITEL 5: SCHICKSALSBERG
Nach dem Tod seines Vaters fand mein Vater Trost in den vielen Kondolenzbriefen, welche die Familie erreichten. Einer davon stammte von Merkl, der nach seiner Beileidsbekundung hinzufügte: „… Ich kann es einfach nicht glauben, dass Sie nicht [bei der Nanga-Parbat-Expedition] dabei sein sollen und ich hoffe nur, dass Ihre Teilnahme noch möglich werden wird. … Es wäre meine größte Freude, wenn Sie im März mit uns starten würden.“ 138Doch all solches Flehen konnte Pallas nicht überzeugen. Wie sich am Ende herausstellen sollte, rettete ihm der Verzicht wahrscheinlich das Leben und veränderte es definitiv. Denn durch den Nanga Parbat lernte er meine Mutter kennen. Aber dies geschah erst Monate später.
Am 25. März 1934 verließ der Zug mit der Vorgruppe der Expedition – Merkl, Wieland, Schneider und dessen Landsmann Aschenbrenner – unter dem Jubel von Freunden und Verwandten den Bahnhof von München in Richtung Genua, wo sie den Dampfer „Victoria“ bestiegen. Sechzehn Tage später folgte die Hauptgruppe und ging am 13. April in Venedig an Bord der „Conte Verde“. Zu ihrer Überraschung teilten sie sich das Schiff mit Dyhrenfurths Internationaler Karakorum-Expedition. Zeitungsberichte spielten Animositäten zwischen den beiden Expeditionen hoch, diese Berichte decken sich jedoch nicht mit den tatsächlichen Schilderungen der Überfahrt. 139Die Bergsteiger vertrieben sich die Zeit mit freundlichen Rivalitäten bei einem Wurfringspiel an Deck. „Quoits“, bei dem Seilringe über einen Holzpflock geworfen wurden, war die Inspiration für das amerikanische Hufeisenwurfspiel. Offensichtlich hofften beide Expeditionen, bald einen noch größeren Seilring über einen noch größeren Pflock – einen Achttausendergipfel – werfen zu können.
Obwohl beide Expeditionen von einem Münchner Sporthaus mit der neuesten Bergausrüstung ausstaffiert worden waren, endeten damit die Gemeinsamkeiten. Das Mitteilungsblatt des Alpenvereins schrieb in seiner Juniausgabe, die Karakorum-Expedition stünde unter der „Leitung“ von Dyhrenfurth und die Nanga-Parbat-Expedition unter der „Führung“ von Merkl. 140Obwohl sich beide Worte in ihrer Bedeutung ähneln, deutet Letzteres „befehlen“ an und spiegelt einen subtilen Unterschied zwischen beiden Männern wider. Hettie und Günter Dyhrenfurts bewusster Betonung der Internationalität ihres Unternehmens und ihrer negativen Haltung gegenüber dem Dritten Reich, verstärkt durch ihren jüdischen Hintergrund, standen Merkls Verpflichtung zu einem rein deutschen Versuch und sein unbedingter Wille gegenüber, die Führung des Dritten Reichs zufriedenzustellen. Solche Angelegenheiten sind jedoch selten eindeutig. Einerseits hatte das angeblich „rein deutsche“ Nanga-Parbat-Team zwei österreichische Teilnehmer, Schneider und Aschenbrenner – und Schneider war offen gegen Hitler. Ebenfalls zu den Teilnehmern zählte ein junger Geologe, Peter Misch, der jüdischer Herkunft war und nach dem Arier-Paragrafen des Berufsbeamtengesetzes von der Nanga-Parbat-Expedition hätte ausgeschlossen werden müssen. 141Auf der anderen Seite zählte zu Dyhrenfurths Mannschaft der Eigenwerbung betreibende Bergsteiger und Filmemacher Hans Ertl, der später als „Hitlers Fotograf“ eine Schlüsselfigur in der Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten wurde. 142So war die Zusammensetzung beider Expeditionsmannschaften ein ethnischer wie politischer Mischmasch.
Wenn sich auch beide, sowohl Dyhrenfurth als auch Merkl, auf eine Großexpedition mit Hunderten von Trägern festgelegt hatten, waren ihre Ziele doch verschieden. Merkl war zielstrebig: Sein vorrangiges Ziel war die Bezwingung des Nanga Parbat; geologische Forschungen und eine Filmdokumentation waren zweitrangig. Dyhrenfurth trat für einen weiter gefassten Plan ein: die Erforschung und Besteigung unbestiegener Gipfel im Karakorum und die Produktion des ersten Spielfilms im Himalaya. Das Drehbuch von „Der Dämon des Himalaya“ beinhaltete melodramatische Helden und gefährliche mythische Kräfte, die sich inmitten der majestätischen Gipfel bekämpften. 143Schneider spottete darüber in einem Brief an meinen Vater: „Sie [Dyhrenfurths Expedition] wollen in Gegend K2 einen ‚leichten‘ Achttausender behüpfen und einen Film drehen, dessen Manuskript ich einmal sah. Ich sage Dir, dabei wurde mir schon ganz schwach.“ 144Es ist verständlich, dass Schneider weiche Knie bekam. Später wurde der Film als „Hoch-Kitsch“ verrissen, der die Würde des Bergsteigens erniedrige.
Die beiden Expeditionen unterschieden sich auch in der finanziellen Unterstützung, was ihre Ziele beeinflusste. Der größte Teil von Merkls Budget kam von der Deutschen Reichsbahn, während Dyhrenfurth von India-Ton finanziert wurde, einer kleinen Berliner Filmfirma, welche den Spielfilm produzieren wollte. 145Die Verwicklung der Filmemacher und Schauspieler mit der Expedition führte später zu Spannungen. Aber auch die Investition der Reichsbahn in die Nanga-Parbat-Expedition verkomplizierte Dinge. Die Eisenbahngesellschaft war sich sicher, dass ihr die Unterstützung der publicityträchtigen Unternehmung im Himalaya zur Ehre gereichen würde. In einem Dankschreiben gelobte ihr Merkl: „So etwas ist nur in Deutschland möglich. Für Deutschland werden wir kämpfen und werden alles daran setzen, den ersten Achttausender für Deutschland zu erobern. Heil Hitler!“ 146Dies war gespielte Tapferkeit, denn Merkl hatte zuvor an Hoerlin mit größerer Bescheidenheit geschrieben: „Wir alle bedauern sehr, dass Sie nicht bei uns waren. Hoffentlich wird es [das Unternehmen] aber doch was.“ 147Seine kurze Nachricht war auf einer Postkarte mit dem „Himalaya-Pfennig“ geschrieben, die ein Foto des Nanga Parbat zierte. Sie war Teil einer landesweiten Kampagne, Reklame für die Expedition zu machen und weitere Finanzen aufzutreiben. Mit solch sichtbarem Sponsoring war der Erfolgsdruck enorm.
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