Trotz der hohen Anforderungen dieser Tour brachte Eleonore von ihr achtzig Fotos zurück. 1922 überschritt sie mit dem Wiener Spitzenalpinisten Alfred Horeschowsky das Täschhorn, wobei sie den Teufelsgrat im Abstieg begingen. Auf dem Weg von der Täschalp ins Tal stach ihr wiederum der gegenüberliegende Gipfel ins Auge: «Immer gewaltiger baute sich das Weißhorn auf, mit seiner Formen edlem Gleichmaß den Beschauer geradezu beglückend.» Im Jahr darauf machte Horeschowsky, während Eleonore mit Willo Welzenbach und Hans Pfann die Überschreitung vom Matterhorn zur Dent d’Hérens gelang, mit dem ebenfalls aus Wien stammenden Franz Piekielko den ersten ernsthaften Versuch in der Matterhorn-Nordwand.
Im August 1925 kletterte Familie Noll-Hasenclever einschließlich des neunjährigen Sternchens auf das Matterhorn. Wenige Tage später brach Eleonore mit Hans Pfann und Hermann Trier zum Bishorn auf – dem letzten Viertausender im Wallis, den die 45-Jährige noch nicht bestiegen hatte –, um anschließend über den Nordgrat das Weißhorn zu erreichen. Weil sie spät dran waren und das Wetter umzuschlagen drohte, kehrten sie vom Gipfel des Bishorns aber ins Bisjoch zurück und wollten auf der von Geoffrey Winthrop Young und Felix Levi im Jahr 1900 erstbegangenen Route zur Weißhornhütte gelangen. Auf dem steilen Firnhang unterhalb des Ostgratsattels gerieten die drei kurz vor Erreichen des Schaligletschers in ein Schneebrett. Trier konnte sich aus dem Lawinenschnee befreien, auch Pfann überlebte verletzt, doch für Eleonore kam jede Hilfe zu spät. Sie erstickte in den Schneemassen, welche die Spalte auffüllten, in die sie gestürzt war.
Selbstbewusste Dame im Kreis von Bergkameraden: Eleonore Noll-Hasenclever erholt sich in der Konditorei des «Mont Cervin» in Zermatt von ihren alpinen Unternehmungen – ihr Ehemann Johannes Noll links von ihr, ganz links Felicitas von Reznicek .
(aus: Heinrich Erler (Hrsg.): Den Bergen verfallen. Alpenfahrten von Eleonore Noll-Hasenclever. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Berlin 1932)
Begraben wurde sie auf dem Bergsteigerfriedhof von Zermatt. Für die Aufbahrung und den protestantischen Trauergottesdienst öffneten die Engländer erstmals wieder die anglikanische Kapelle, die anderen Nationalitäten seit dem Kriegsausbruch 1914 verschlossen gewesen war – und das, obwohl sie wenige Wochen zuvor zur Einweihung der Gedenktafel für Edward Whymper an der Front des Hotel Monte Rosa keine deutschen Gäste eingeladen hatten. Einheimische und Alpinisten aus vielen Ländern verabschiedeten sich von ihr, und während Eleonore noch 1913 erlebt hatte, dass sie von Saaser Bergführern angefeindet wurde, sahen es die Zermatter Kollegen zwölf Jahre später als Ehre an, ihren mit Edelweiß bedeckten Sarg zum Friedhof zu tragen.
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(aus: Heinrich Erler (Hrsg.): Den Bergen verfallen. Alpenfahrten von Eleonore Noll-Hasenclever. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Berlin 1932)
Als sie am 4. August 1880 in Duisburg geboren wurde, deutete zunächst nichts darauf hin, dass Eleonore Hasenclever einmal «die beste und bedeutendste Bergsteigerin Deutschlands, ja die beste Bergsteigerin in der ganzen Welt» werden würde, wie es in ihrer Grabrede hieß. Die Tochter eines Brückenbauingenieurs wuchs in behüteten Verhältnissen in Frankfurt am Main auf. Während ihrer Pensionatszeit in Lausanne entdeckte sie die Alpen für sich und ließ sich zielstrebig von Alexander Burgener (1845–1910), dem berühmten «König der Bergführer» aus Saas-Fee, zur Bergsteigerin ausbilden. Mit ihm bestieg sie 21 Viertausender, zunächst vor allem im Wallis, später auch im Montblanc-Gebiet.
Zu einer eigenständigen Alpinistin herangereift, kletterte sie ab dem Sommer 1909 führerlos, gemeinsam mit verschiedenen Bergkameraden. Zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft im Öster reichischen Alpenklub trat sie 1912 in den Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein ein. Sie war auch in den Ostalpen und in den Dolomiten aktiv, kehrte jedoch Sommer für Sommer in die Westalpen zurück, um große Gipfeltouren und Überschreitungen zu realisieren, wobei sie mehrmals selbst die Führungsrolle übernahm. War schon das in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für eine Frau ungewöhnlich, so erst recht die Tatsache, dass Eleonore dieses freie und selbstbestimmte Leben beibehielt, nachdem sie 1914 Johannes Noll geheiratet hatte und 1916 Mutter einer Tochter geworden war.
Zu ihren herausragenden Unternehmungen gehören 1919 die Monte-Rosa-Ostwand, 1922 die Traversierung des Täschhorns mit Abstieg über den Teufelsgrat, 1923 die Überschreitung vom Matterhorn zur Dent d’Hérens und 1924 die Nordwand des Breithorns zum Westgipfel. Zählt man die mehrfach erreichten Gipfel mit, bestieg sie mehr als 150 Viertausender. Einer von ihnen, das Weißhorn, das sie besonders schätzte, wurde ihr schließlich zum Verhängnis: Am 18. August 1925 starb sie in dessen Ostflanke in einem Schneebrett.
ALPINGESCHICHTE
SCHAUPLATZ DOLOMITEN: SCHWIERIGKEITSALPINISMUS AN DER WENDE ZUM 20. JAHRHUNDERT
An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden die Grenzen des Kletterbaren weiter hinausgeschoben. Bereits 1887 hatte der Münchner Gymnasiast Georg Winkler mit der Erstbesteigung des steilsten der drei Vajolettürme in der Rosengartengruppe im Alleingang neue Maßstäbe im Felsklettern gesetzt. Noch vor dem Ersten Weltkrieg bewältigte sein Landsmann Otto Herzog an der Schüsselkarspitze im Wetterstein eine Kletterpassage, die nach heutigen Maßstäben mit dem oberen sechsten Grad zu bewerten ist.
Ermöglicht wurde diese Leistungssteigerung zum einen durch fortschrittliche Ausrüstung: Weiche Kletterschuhe erlaubten einen besseren Kontakt zum Fels, die Verwendung von Karabinern als Verbindung zwischen Mauerhaken und Seil revolutionierte die Sicherungstechnik. Zum anderen entwickelten sich neue Klettertechniken, etwa die Gegendruckmethode, die im deutschen Sprachraum «Piazen» – nach dem Dolomitenkletterer Tita Piaz – heißt; Hans Dülfer gelangen mittels Seilzugquergängen bahnbrechende Erstbegehungen im Wilden Kaiser. Im Gegensatz zur sogenannten «Wiener Schule», in der Exponenten wie Paul Preuß das Klettern ohne Hakenhilfe propagierten, nützten die Kletterer der «Münchner Schule» die Möglichkeiten der modernen Seiltechnik.
Die steil aufragenden Kalktürme der Dolomiten entwickelten sich zu einem wichtigen Schauplatz dieses sportlich orientierten Bergsteigens. Einzelne ehrgeizige Frauen ließen sich davon anstecken, auch wenn sie zumeist als Seilzweite mit Führern oder mit ihren Ehemännern kletterten. Die meisten waren jedoch immer noch in ihrer «naturgegebenen» Rolle als treu sorgende Gattin und Mutter gefangen, die ihnen im 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Beim Bergsteigen unnötige Risiken einzugehen war verpönt – angeblich drohten noch ganz andere Gefahren als die alpinen: gesundheitliche Schäden, Verlust der Weiblichkeit, Unsittlichkeit. Der Platz der bürgerlichen oder adeligen Frau hatte in der Familie zu sein, und für alle anderen war an Bergsteigen zum Freizeitvergnügen sowieso nicht zu denken.
DIE SCHWIERIGSTE UND LÄNGSTE TOUR DER DOLOMITEN
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