Sie waren inzwischen auf dem Rückweg vom Campus, aber sie gingen nicht zum Wohnheim.
»Wo geht es denn jetzt hin?«, wollte Reggie wissen.
»Wohin? Mittagessen! Dein Kühlschrank ist doch noch immer leer.«
»Okay, aber diesmal zahle ich. Du hast schon das Frühstück gekauft.«
Stephan wollte protestieren, nickte dann aber. »Okay, Kittycat.«
»Nenn mich nicht so! Das ist eine verdammte Verniedlichung!«, fauchte Reggie und baute sich vor ihm auf.
Die Katze hatte Krallen! Der Hengst in Stephan war begeistert, in keinster Weise abgeschreckt. »Du bist niedlich, und heiß obendrein.« Simple Tatsache. Er zuckte mit den Schultern und grinste.
Reggie beugte sich mit verengten Augen und verschränkten Armen vor und trat bis auf wenige Zentimeter an ihn heran. Wenn Wut ihn dazu brachte, seine Berührungsängste aufzugeben, sollte Stephan ihn häufiger ärgern. Wütend war der Puma außerdem noch viel anziehender als schüchtern. Reggies Atem fuhr warm über sein Gesicht und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sich die vollen Lippen des Pumawandlers anfühlen mochten. Wenn er doch nur ein wenig näher käme … Stephan fühlte sich in Reggies Gegenwart und in seiner enger werdenden Jeans etwas unbehaglich. Irgendwie war ihm der Kater schon wieder unter die Gürtellinie gekrochen.
»Um das klarzustellen: kein In-te-res-se! Ich bin nicht schwul, im Gegensatz zu dir. Ich bin ein Soldat des ‚Bear Creek‘-Rudels. Und jetzt lass uns Essen gehen«, sagte Reggie fauchend.
Er roch nach männlicher Erregung, Wut und ein wenig Unsicherheit. Stephans noch funktionierenden Gehirnzellen blieben an dem nicht logischen Zusammenhang zwischen Rudelposition und sexueller Orientierung hängen, zumal Reggie ganz offensichtlich log. Er bezweifelte jedoch, dass er eine Antwort auf eine Nachfrage bekäme. Als Reggie einen Schritt zurücktrat, ließ Stephan seinen Blick über dessen Körper gleiten. Reggies Jeans schien keinen Deut bequemer zu sein als seine eigene. »Kein Interesse?« Stephan blähte die Nasenflügel wie ein Pferd die Nüstern. »So, so!«
Reggie unterdrückte sichtlich ein genervtes Stöhnen.
»Und du irrst dich, Kittycat, ich bin bisexuell.«
»Das spielt keine Rolle. Und ich werde mich nicht provozieren lassen, Bronco. Wo geht es lang?« Reggie konnte also schlagfertig sein, wenn man ihn genug reizte. Er sah ihn mit verschränkten Armen und strengem Blick an.
Gott, es machte höllischen Spaß, mit Reggie zu streiten. »Okay, Redge, wie du meinst. Geradeaus und die Nächste rechts.« Der neue Kosename war eine spontane Eingebung. Er erntete einen skeptischen Blick, aber keinen weiteren Kommentar, und wusste nicht, ob er enttäuscht oder erfreut darüber sein sollte.
Reggie stapfte übertrieben voran, wodurch er Stephan einen guten Blick auf seinen Hintern gewährte. Anscheinend besaß der Puma nicht nur Klamotten, in denen er sich verstecken konnte … Er würde definitiv mehr Bogenschießen heute Abend brauchen!
»Soldat also? Ihr bekommt Kampftraining?«
»Wir werden nicht im Klöppeln unterrichtet!« Reggies Antwort klang mehr als nur ein wenig genervt. Und wo auch immer er diese Antwort mit der für Amerikaner eher exotischen Vokabel hergenommen hatte, sie war großartig.
Stephan mochte diese Version des Pumas definitiv viel lieber als die verschüchterte Variante, und er konnte einen Lachflash nicht zurückhalten.
***
Reggie hielt an und drehte sich empört um. Doch unter seine Wut mischte sich ein Gefühl, das seinen Puma umtrieb. Es war, als flüsterte dieser ihm ein Wort zu: Gefährte.
Gef…? Nein! Das kann nicht sein, auf keinen Fall!
Das würde bedeuten, dass er seine Stellung im Rudel verlor. Ausgeschlossen. Reggie schüttelte den Gedanken ab und spürte, wie seine menschliche Hälfte in Panik geriet. »Bist du fertig?«, fragte er mit wesentlich mehr Aggression als nötig, weil er gerade um Fassung rang.
***
Stephans Heiterkeit verstarb schneller, als es ihm lieb war. Es machte ihn irgendwie traurig, dass Reggie so aufgelöst wirkte. Und er wusste genau, woran das lag, denn er spürte es plötzlich so deutlich, dass es ihm kurz die Kehle zuschnürte.
Fuck! Gefährte? Kann das wirklich sein?
Er rollte das Wort wieder und wieder im Kopf herum, doch es fühlte sich nichts falsch daran an. Das Einzige, was gerade falsch war, war Reggies Reaktion. Oder war sie das gar nicht? Spürte er gerade dasselbe wie er? Stephans Instinkte befahlen ihm, ihn in die Arme zu schließen und zu beruhigen, aber er hatte gerade noch genug funktionierenden Verstand, um zu ahnen, dass zu viel Körperkontakt wahrscheinlich gerade nicht willkommen war, aber Abstand halten konnte er auch nicht. Also trat er auf Reggie zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das war ein Kompromiss.
***
Reggie schluckte hart. Wie oft hatte Pete Jenkins, ein dominanter Wolf ihres Rudels, gesagt, es gäbe keine Gefährten für Schwuchteln? Keines der offen homosexuellen Mitglieder des Rudels wurde schlecht behandelt, aber sie blieben stets am unteren Ende der Hierarchie. Ein solches Leben war für ihn inakzeptabel! Er durfte nicht schwul sein, er durfte keinen Gefährten haben. Er würde alles verlieren und sein Vater zählte auf ihn und wäre maßlos enttäuscht von seinem einzigen Nachkommen.
Zugleich war ihm das paradoxerweise egal. Er spürte wärmende Hände auf seinen Schultern, er roch Moschus, Gras, Herbstwind und einen Hauch Gewürz, das er immer noch nicht umschreiben konnte. Es war betörend.
»Hey, alles okay?« Jetzt beinahe schwarze, wenig menschliche Augen blickten ihn voller Sorge an.
Der Körperkontakt beruhigte ihn auf eine Art, wie es sonst nur sein Rudel konnte. Er wusste nur zu gut, warum. Stephan durfte davon auf keinen Fall erfahren. Das G-Wort war tabu. »Nichts«, sagte er. »Alles gut.«
***
Stephan konnte sehen, wie die Panik aus Reggies Augen wich. Stattdessen schien er eine Wand um sich herum aufzubauen. Das gefiel ihm gar nicht, aber er war erleichtert, auch wenn er nicht begriff, was gerade passiert war.
»Sicher?«, hakte er nach.
Als Reggie nickte, seufzte er halb beruhigt, halb frustriert, weil sein Gefährte ihm nicht vertraute, aber schließlich kannten sie sich keine 24 Stunden, Vertrauen brauchte Zeit.
***
»Hey, das war kein Angriff, okay?«, meinte Stephan. »Ich wollte nur wissen, was du brauchst, um hier sinnvoll trainieren zu können. Deine Zeit in Europa soll dich ja nicht zurückwerfen, sondern weiterbringen.«
»Ähm …« Na toll, er hatte seine Sprache wieder verloren. Anscheinend brachte selbst diese harmlose Berührung von Stephan sein Gehirn zum Schmelzen, oder die Tatsache, dass dieser überraschend fürsorglich zu sein schien. Reggie räusperte sich umständlich, bemüht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, brachte es aber nicht über sich, Stephans Hände abzustreifen. Die seltsam vertraute Berührung fühlte sich viel zu gut an. »Ich dachte, ich gehe einfach zu einer der Kampfsportgruppen an der Uni.«
»Hmmm. Was da passiert, ist ganz nett für Hobbysportler, aber eher harmloses Geraufe. Ich glaube nicht, dass es das Richtige ist, um dich als Soldat zu trainieren.«
»Hast du eine bessere Idee?« Reggie bemühte sich um einen genervten Tonfall, das war besser, als seine Verunsicherung zu zeigen. Warum überraschte es ihn nicht im Geringsten, dass Stephan tatsächlich eine bessere Idee hatte?
»Ich schlage dir vor, mit mir in mein altes Dojo zu kommen. Ich bin in der Nähe von Dortmund aufgewachsen und trainiere noch immer dreimal in der Woche dort bei Meister Enzo Stahl. Offiziell MMA und Taekwondo, aber Onkel Enzo hat ein paar echt gute Tricks auf Lager, die man nicht im Dojo nebenan lernt. Er ist ein wirklich guter Lehrer. Er bewegt sich wie eine Katze und er weiß genug über Wandler, dass ich mich manchmal frage, ob er selber einer ist, wenn ich es nicht besser wüsste. Er hat mir das meiste beigebracht, was ich über Wandler weiß.«
Читать дальше