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»Okay. Wow, dein Deutsch klingt wirklich super!« Das tat es wirklich, Reggies Akzent verriet kaum seine Muttersprache. Die Sprachmelodie war ein wenig zu fließend, aber das fiel kaum auf.
»Danke.« Reggie hatte vorher schon gut ausgesehen, aber jetzt mit dem offenen Lächeln war er einfach umwerfend. »Ist das dein einziges Gepäck?«, fragte Stephan und zeigte auf den großen Trekkingrucksack, den Reggie auf dem Rücken trug.
»Ja, der Rest kommt mit der Post. Für die nächsten ein bis zwei Wochen habe ich genug dabei.« Der Puma senkte vor ihm den Blick und überspielte es, indem er betont zur großen Uhr am Ende der Empfangshalle sah.
»Okay.«
Mist! Das war wohl gerade sein Lieblingswort. Stephan räusperte sich; er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm aufgefallen war, dass der Pumawandler gerade ein Problem mit seiner oder seiner eigenen Dominanz zu haben schien. Wieso passierte ihm das immer wieder? Raubtierwandler waren in der Regel wenig begeistert, wenn sie feststellten, wie dominant er war, was nicht gerade dem gängigen Bild eines Pferdewandlers entsprach.
»Dann komm mal mit. Mein Auto steht ganz in der Nähe.«
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Als Stephan sich umdrehte und losmarschierte, bekam Reggie die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Der andere Wandler wusste eindeutig, wie gut er aussah und wie er sich präsentierte. Die beinahe schwarze, enge Washed-out-Jeans war mit Kontrastnähten versehen, die förmlich auf den ohnehin unübersehbaren Knackarsch wiesen. Das Shirt mit seinem abstrakten Tribal, das dieselbe Farbe wie die Nähte hatte, saß hauteng und steckte im Hosenbund, wodurch es sich noch mehr an Stephans Muskulatur schmiegte. Die Klamotten waren mit Sicherheit nicht zufällig gewählt, und zusammen mit der eleganten Art, mit der sich Stephan bewegte, waren sie ein Blickfang für Reggie, obwohl sein Tandempartner nichts tat, außer durch die Empfangshalle zu gehen.
Anscheinend hatte Stephan bemerkt, dass er ihm nicht folgte, also blieb er stehen und sah ihn über die Schulter hinweg mit einem fragenden und belustigten Blick an.
Reggie, der immer noch starrte, fühlte sich ertappt, lief rot an und bemühte sich, seine Augen endlich abzuwenden und ihm zu folgen. Er war dankbar, dass Stephan nicht weiter auf sein seltsames Verhalten einging.
»Wir werden im gleichen Wohnheim sein. Es ist eines von dreien, die speziell für Wandler reserviert sind, und liegt direkt an einem umzäunten und gesicherten Waldstück, in dem wir auch laufen können. Nichts Großes, aber es genügt. Du erhältst Montag beim AStA deinen eigenen Zugangscode für das Tor vom ’Laufstall’ und einen Plan, wann der Wald für Beute- oder Raubtierwandler reserviert ist. Wenn du heute nach dem langen Flug laufen musst, darfst du meinen Code benutzen. Es ist ein offener Tag. Das heißt, Beute- und Raubtierwandler dürfen beide hinein. Aber du darfst an offenen Tagen nicht jagen.«
Reggie starrte Stephan einen Augenblick lang mit offenem Mund an, von seinen ebenso unwillkommenen wie widersprüchlichen Instinkten abgelenkt. »Wow, das ist ganz schön kompliziert … Und ein ganzes Heim nur für Wandler? Gibt es so viele an der Universität?«, wollte er wissen, während sie zum Auto gingen.
»Na ja, relativ. Dortmund ist eine Massenuniversität, annähernd sechzigtausend Studierende, davon etwas über vierhundert Wandler unterschiedlicher Spezies; circa die Hälfte davon lebt direkt auf dem Campus. Dazu kommen einige unter den Angestellten der Universität, aber ich weiß nicht, wie viele das genau sind. Unis, die logistisch speziell auf Wandler eingestellt sind, liegen am Rand des Ruhrgebiets, wo etwas mehr Raum ist. Dortmund und Duisburg, an den entgegengesetzten Rändern der Region. An den anderen Unis im Pott sind wir relativ auf uns gestellt.«
Wir? Stephan schien keine Grenze zwischen Beute- und Raubtierwandlern zu ziehen. Faszinierend! »Pott?« Das Wort war definitiv nicht im Sprachkurs vorgekommen.
»Oh. Ja. Sorry. Das ist ein anderer Name für das Ruhrgebiet. Früher gab es hier überall Steinkohleabbau. Die Einwohner nannten die Region Kohlenpott, und der Name blieb irgendwie hängen.«
»Ach so … Ja, darüber habe ich etwas gelesen.«
»Ähnliche Regelungen und Areale findest du auch in anderen Städten und dicht besiedelten Regionen Mitteleuropas«, fuhr Stephan fort. »Hier ist einfach nicht so viel Platz wie in Nordamerika. Rudel sind eher klein, sie haben teilweise nicht einmal feste Territorien. In Osteuropa oder Skandinavien ist es wohl ganz ähnlich wie bei euch, soweit ich weiß. Aber bei uns ist kein Raum für große isolierte Territorien.« Stephan zuckte mit den Schultern und wies mit dem Autoschlüssel auf einen schwarzen SUV, bevor er die Zentralverriegelung öffnete. Der Wagen sah nicht wirklich nach einem Studenten aus, zumindest nicht nach einem, der knapp bei Kasse war.
Schwarz … Wie Stephans Haare und Klamotten. Ob das seine Lieblingsfarbe war?
»Wir haben in Deutschland und den Nachbarstaaten ohnehin einen prozentual geringeren Bevölkerungsanteil als im Rest der Welt, auch siebzig Jahre danach. Der Wandlerrat hat einen Kompromiss geschaffen, wie wir friedlich und sicher miteinander und unentdeckt von den Menschen leben können. Das ist doch die Hauptsache.«
Siebzig Jahre danach … Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Todesschwadronen des Nazi-Regimes, speziellen SS-Einheiten die eine regelrechte Hetzjagd auf Wandler gemacht hatten. Sein Vater hatte diese Zeit gesehen, hatte Reggie davon erzählt. Das war etwas, was der normale Geschichtsunterricht in der Highschool natürlich nicht erklärte.
»Ja, ich denke, schon.«
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Auf dem Weg zu Stephans Auto hatte Reggie seinen Körper wieder unter Kontrolle bekommen. Das Gespräch hatte auch sein Gehirn wieder arbeiten lassen. In der relativen Enge der Fahrzeugkabine allerdings schlugen seine Hormone erneut zu. Er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, und hoffte weiterhin, dass Pferdewandlernasen weniger fein waren als die von Wölfen oder Pumas. Dabei hielt er den Trekkingrucksack auf dem Schoß und versuchte eine bequeme Sitzposition zu finden. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Er verlor sonst nie die Kontrolle über seinen Körper, zu groß war seine Angst, sich zu verraten. Zudem war sein Puma der Dominanz des Pferdewandlers ausgewichen, was nicht weniger irritierend war. Nach allem, was man ihm über Beutetierwandler beigebracht hatte, war das nicht üblich. Allerdings reagierte Stephan ebenfalls auf ihn, wenn er die Blicke bedachte, die ihm der Mann zuwarf, aber er schien damit nicht das geringste Problem zu haben. Ob er Reggies körperliche Reaktionen bemerkte, ließ er nicht durchblicken.
Die Tatsache, dass er schwul und ungeoutet war, war einer der Gründe, weshalb er ein Semester lang in Europa studieren wollte. Er brauchte die Distanz zu seinem Rudel, um sich klar darüber zu werden, wer er war und was er sein wollte. Er war keine Jungfrau, bei Weitem nicht, schließlich war körperliche Nähe für einen Wandler ein deutlich stärkeres Grundbedürfnis als für einen durchschnittlichen Menschen, aber seine Dates waren stets anonyme One-Night-Stands, und er erlaubte sich diese nur, wenn er die nächstgrößere Stadt besuchte. Aber selbst wenn er bis Pendleton fuhr, blieb er immer vorsichtig. Auch wenn er als Wandler immun gegen sexuell übertragbare Krankheiten war, benutzte er stets Kondome und duschte ausgiebig, bevor er ins Rudelterritorium zurückkehrte. Alles, um keine verräterischen Gerüche anzunehmen. Niemand wusste von seiner Homosexualität. Niemand durfte es erfahren. In den vergangenen Monaten waren ihm die Maskerade und das Versteckspiel zunehmend an die Nerven gegangen. Anscheinend hatte beides sein Verhalten auffallend verändert, denn sein Vater hatte immer häufiger gefragt, was mit ihm los war, ebenso wie Donnie, sein Ausbilder. Schließlich war er sogar zu einem Gespräch bei seinem Alpha Arcadius befohlen worden. Der Alpha war freundlich gewesen, hatte aber nachgebohrt. Danach hatte für ihn festgestanden, dass er für eine Weile fortmusste, lange genug, um mit sich und der Welt wieder klarzukommen und herauszufinden, wer er ohne sein Rudel war und ob er mit diesem Reggie leben konnte. Die Vorstellung, Bear Creek für immer zu verlassen, erfüllte ihn mit Schrecken. Und dann hatte dieser Pferdewandler, der ganz offensichtlich an ihm interessiert war, sein Gehirn auch noch dazu gebracht, auszusetzen, was eine Komplikation in seinem Leben war, die er gerade nicht gebrauchen konnte. Zu allem Überfluss bedachte Stephan ihn zwischendurch mit Blicken, die ihm das Gefühl gaben, er wäre die Beute und Stephan der Jäger. Völlig absurd. Garniert wurde das Ganze mit einer Aura der Dominanz, die deutlich machte, dass er es gewohnt war, zu bekommen, was er wollte, und sich beneidenswert wohl in seiner Haut fühlte. Reggies menschlicher Anteil wäre am liebsten ausgestiegen, um der Enge der Fahrzeugkabine zu entkommen, während sein Puma am liebsten zu Stephan auf den Fahrersitz gekrochen wäre. Option eins schied aus, er war in dieser Stadt völlig orientierungslos, und Option zwei stand nicht zur Debatte. Also saß er angespannt und wortkarg neben seinem Alltagstutor und hoffte, die Fahrt mochte schnell vorbeigehen.
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