Bevor sie das Münster betrat, ging sie langsam an den Gebäuden entlang, die den Platz säumten. Sie betrachtete staunend die prächtige rote Fassade des Kaufhauses. Die Statuen der österreichischen Fürsten unter ihren goldgezierten Baldachinen sprachen von Hochmut, von ungezügelter Macht und dem Verlangen, eine unauslöschliche Spur im Strom der Geschichte zu hinterlassen. Eine ganze Weile blieb sie unter der gekrönten Statue von Karl dem Fünften stehen, der in einer Hand den Reichsapfel und in der anderen das erhobene Schwert hielt … Und plötzlich kam das Echo einer Stimme zu ihr zurück, die sie zuletzt vor fünf Jahren gehört hatte. Die meisten hohen Herren verkaufen ihren Glauben und den ihrer Untertanen an den, der ihnen am meisten bietet, sei er nun Katholik oder Protestant.
Diese Aussage war so wahrhaftig wie traurig, und trotzdem stellte Fidelitas fest, dass sie lächelte. Sie sah das Gesicht des Mannes vor sich, den sie kennengelernt hatte, als sie damals versucht hatte, das Rätsel um den Tod eines jungen Adeligen zu lösen, der auf heimtückische Weise an Gift gestorben war. Ein spanischer Landsknecht, ohne Skrupel und gefährlich wie eine scharf geschliffene Messerklinge. Und doch hatte er ihr das Leben gerettet.
Ich segne dich, Juan Alvarez de Santa Cruz y Fuego, dachte sie. Möge dein Mut niemals sinken, möge kein Schwert dich fällen und Gott dir gnädig sein, solange du lebst. Falls du noch lebst, was ich trotz deiner Sünden inständig hoffe.
Sie überquerte den Platz und näherte sich der kleinen Andreaskapelle, deren Keller lange Jahre als Beinhaus gedient hatte. Jedenfalls zu der Zeit, als rund um das Münster noch Freiburger Bürger regelmäßig ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten; dieselbe Zeit, aus der auch die Mauer des ehemaligen Friedhofs rings um das Münster stammte. Heinrich Stöcklin hatte ihr davon erzählt, und von dem Befehl des österreichischen Kaisers Maximilian, der schon vor knapp vierzig Jahren angeordnet hatte, den Friedhof zu verlegen. Aber noch immer standen vor der Kapelle ein steinernes Kreuz und eine Säule mit einem ewigen Licht.
Das hölzerne Tor zum nördlichen Seitenschiff des Münsters knarrte leise, als Fidelitas es aufstieß, und dann nahm der stille, weihrauchduftende Dämmer der riesigen Kirche sie auf. Ihre Sandalen machten kaum ein Geräusch auf den Steinfliesen, während sie auf den Hochaltar zuging. Sie wusste, dass das Münster Maria geweiht war, und sie hielt den Blick fest auf das Bildnis gerichtet, das den Altar dominierte und selbst im Halbdunkel unter dem hohen Gewölbe noch strahlte, als würde es jeden Funken Licht, der durch die bunten Glasfenster fiel, einfangen und bündeln. Maria als Himmelskönigin – die Krone über dem lockigen, leicht zur Seite geneigten Kopf, das Gesicht lieblich und sanft, das Gewand golden und der Mantel tiefblau, schimmernd wie kostbarer Samt.
Sei mir gnädig, Mutter Gottes, betete Fidelitas. Wenn ich meine eigentliche Aufgabe vergessen und mir wider besseres Wissen angemaßt habe, in das Leben von Menschen einzugreifen, die mir vertrauen, obwohl sie mich kaum kennen … dann vergib mir und wende ihr Schicksal trotz meiner Einmischung zum Guten. Vergib mir.
(13. Juni A. D. 1555)
Ich könnte aus der Haut fahren.
Heinrich Stöcklin hat mich zu sich rufen lassen und mir mitgeteilt, dass er meine Absichten unter keinen Umständen zu unterstützen gedenkt. Der alte Zausel hat sich die letzten Jahre in seinen Büchern vergraben und keinen Mucks getan, und jetzt plötzlich droht er, all meine Pläne zu durchkreuzen. Obendrein erholt sich auch noch Frau Regula, die so lange im Hause Stöcklin überhaupt kein Hindernis gewesen ist. Wenn es Heinrich gelingt, sie auf seine Seite zu ziehen, dann wird auch Vinzenz folgen. Und dann ist der Schatz, um den ich mich monatelang bemüht habe, unwiederbringlich dahin.
Das alles hat mit dieser Nonne angefangen. Bevor sie nach Freiburg gekommen ist, lag mein Weg klar vor mir, ohne jedes Hindernis. Ich muss ihr Einhalt gebieten, um jeden Preis, genau wie Heinrich.
Und ich werde sie dafür büßen lassen. Alle beide.
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