Immerhin: Martin Danner war nicht nur reich, sondern auch gut aussehend. Er vertrug sich bestens mit Gundis, erwies Vinzenz Stöcklin stets eine makellose Höflichkeit und machte sich, obwohl das Verlöbnis bereits so gut wie feststand, immer noch die Mühe, Veronika mit Geschenken zu umwerben, hübsche Schmuckstücke und andere durchaus kostspielige Kleinigkeiten, die er für passend hielt. Inzwischen wurde sie von sämtlichen Freundinnen um ihren zukünftigen Ehemann beneidet.
Veronika verzichtete darauf, zu widersprechen. Sie sagte auch nichts darüber, dass sie statt der sorgsam ausgewählten Kleinodien, die Martin ihr zukommen ließ, lieber Bücher gehabt hätte. Sie las für ihr Leben gern, hatte aber den Verdacht, dass Martin Bücher nur dann zu schätzen wusste, wenn sie mit den Zahlenkolonnen seiner Rechnungen und Lieferungen gefüllt waren. Genau wie ihre Großmutter.
Außerdem gab es noch etwas, das sie nicht nur ihren Freundinnen, sondern auch Gundis, ihrem Vater und allen anderen verschwieg – nämlich den Grund, wieso sie seit einem halben Jahr mindestens zweimal die Woche abends den Schlüsselbund aus dem Zimmer ihrer schlafenden Großmutter stahl, warum sie dann in größter Heimlichkeit das Haus verließ und erst zwei oder drei Stunden später wieder ebenso heimlich zurückkehrte.
Sie wusste, dass es falsch war, was sie da tat, und gefährlich obendrein. Sie wusste, dass ihre Ehrbarkeit, ihr guter Ruf und sämtliche Aussichten, die sie besaß, dahin sein würden, wenn man sie ertappte. Sie würde Schande über ihre Familie bringen. Und Martin Danner würde sie auf keinen Fall mehr haben wollen … Weswegen sie sich in seltenen, besonders waghalsigen Momenten beinahe wünschte, bei dieser besonderen, bittersüßen Heimlichkeit ertappt zu werden. Damit sie endlich aufhören konnte zu lügen, damit ihre Großmutter keine Gelegenheit mehr hatte, sie wie eine Figur auf einem Spielbrett umherzuschieben – und damit die Welt erfuhr, was sie selbst wollte. Wenn das geschah, musste es bald geschehen – Veronika wusste genau, dass ihr die Zeit davonlief. Über kurz oder lang würde Martin Danner den Geschenken, mit denen er sie behängte, den Ehering folgen lassen, und dann war es zu spät.
Trotz alledem war sie zu Tode erschrocken, als sie sich an diesem Abend ins Haus schlich … als sie die Hand spürte, die sie am Umhang festhielt, und die ruhige Stimme hörte, die sie anwies, ihr hinunter in die Küche zu folgen.
Sie war verloren.
Abgesehen von dem kleinen Lichtkreis der Kerze, die Fidelitas mitgebracht hatte, war die Küche vollkommen dunkel.
Veronika saß auf einem Hocker am Tisch, die Schultern angespannt, den Kopf gesenkt. Den Umhang zog sie fest um sich zusammen, als könnte sie sich damit vor der Strafpredigt schützen, die ihr zweifellos bevorstand.
Aber die Nonne schwieg.
Veronika blickte auf und studierte ebenso schweigend das Gesicht, das sich vor ihr aus der Finsternis schälte – ebenmäßige Flächen, vergoldet vom Flammenschein, die gerade Nase, der volle, ein wenig herbe Mund, das eckige, willensstarke Kinn. Es kam ihr so vor, als würde sie Fidelitas zum ersten Mal richtig sehen, und ihr stockte das Herz bei dem Gedanken, dass diese fast vollkommen fremde Frau buchstäblich ihr Schicksal in den Händen hielt.
»Werdet Ihr meinem Vater erzählen, dass ich heimlich aus dem Haus war?«, fragte sie endlich, als sie die Stille nicht länger aushielt. »Oder … oder meiner Großmutter?«
»Euer Vater würde zweifellos beunruhigt und enttäuscht sein. Aber natürlich fürchtet Ihr Euch am meisten vor dem, was Frau Gundis zu solchen Eigenmächtigkeiten sagen würde. Nicht wahr?« Fidelitas betrachtete sie forschend. »Kommt es häufiger vor, dass Ihr Euch heimlich davonschleicht? Oder ist das heute zum ersten Mal geschehen?«
Veronika hätte liebend gerne gelogen, brachte es aber einfach nicht fertig. »N… – nein. Ich mach das schon ein paar Monate.«
»Soso.« Fidelitas faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Darf ich den Namen des jungen Mannes erfahren?«
Veronikas Kopf zuckte hoch. »Woher wisst Ihr …«
»Das ist nicht weiter schwer.« Die Nonne lächelte sachte. »Wenn Ihr eine Freundin aufsuchen wollt, könnt Ihr das jederzeit bei Tageslicht tun … und bei einem Händler wollt Ihr zu dieser späten Stunde wohl kaum noch etwas kaufen. Aber da Eure Großmutter im Moment Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um Euch möglichst gewinnbringend unter die Haube zu bringen, bleibt eigentlich nur eine Sache übrig, die Euch zu solchen Heimlichkeiten treiben könnte – jemand, an den Ihr Euer Herz verschenkt habt, ohne dass Eure Familie davon wissen darf. – Wie heißt er?«
»Jörg.« Veronika sprach sehr leise. »Er … er ist ein guter, anständiger Mensch. Und wir haben nichts getan, was … ich meine, wir …« Sie biss sich auf die Lippen; ihre Wangen waren brennend heiß.
»Wenn er so ein anständiger Mensch ist, wie Ihr sagt – warum kommt er dann nicht her und bittet Euren Vater um Eure Hand?« Die Stimme der Nonne enthielt erstaunlicherweise nicht einen Hauch von Tadel, sondern ehrliche Anteilnahme. »Das würde Euch diese Heimlichkeiten mitten in der Nacht ersparen – und ehrbarer wäre es auch, meint Ihr nicht?«
Veronika starrte die Nonne an, und die Verzweiflung über den schmerzhaften Zwiespalt, in dem sie sich befand, schlug wie eine eiskalte Woge über ihr zusammen.
»Ehrbarer wäre es ganz sicher«, entgegnete sie bitter. »Aber in diesem Fall ist alle Ehrbarkeit vergebens, Schwester. Denn ich bin Martin Danner versprochen. Der ist reich, wohlhabend und angesehen und alles, was sich meine Großmutter als Bräutigam für mich erhofft hat. Jörg ist nichts davon.«
Sie schluckte heftig.
»Und außerdem … außerdem ist er Martins jüngerer Bruder.«
»Jörg Danner? Ja, freilich kenn ich den! Er ist ein wirklich guter Junge.«
Es war am folgenden Mittag. Fidelitas hatte Heinrich Stöcklin ein leichtes Essen hinaufgebracht, weil er sich heute zu schwach und müde fühlte, um mit am Familientisch zu sitzen. Sie hatte extra gewartet, bis sein Beichtvater – ein raubvogelgesichtiger und ziemlich furchteinflößender Priester namens Paulus Mayr, der ihn einmal wöchentlich besuchte – sich verabschiedet hatte und mit wehender Soutane durch die Haustür verschwunden war.
Nach gründlichem Abwägen und viel Gebet war sie sich inzwischen sicher, dass es klüger sein würde, nicht mit Vinzenz und erst recht nicht mit Gundis über das zu sprechen, was Veronika ihr erzählt hatte, sondern besser mit Veronikas Großvater. Und nachdem der Name des heimlichen Liebsten seiner Enkelin das erste Mal gefallen war, vergaß der alte Herr auf verblüffende Weise alle Schwäche und wirkte mit einem Mal ausgesprochen munter.
»Mein Mädel ist klug«, verkündete er, »genau wie Jörg. Es wundert mich gar nicht, dass er es war, der ihr Herz gewonnen hat, und nicht sein hochmütiger Laffe von Bruder. Ginge es nach mir, ich würde sie Jörg sofort zur Frau geben. Er mag keine Reichtümer und keinen Einfluss besitzen, aber er ist ehrlich und fleißig. Er lernt ein ordentliches Handwerk bei einem Uhrmachermeister, und eines Tages würde er sie sehr gut versorgen können, da bin ich ganz sicher.«
»Frau Gundis sieht das anders, nehme ich an?«, wollte Fidelitas wissen.
»Weiß Gott!«
Heinrich Stöcklin sank ein wenig in sich zusammen, als ginge ihm einmal mehr auf, dass es nicht seine Meinung war, die zählte.
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