Stratton starrte, ohne zu blinzeln, auf den Richtungsanzeiger, als das Licht erst nach rechts, dann nach oben, dann nach links flackerte. Er gab dem Piloten hastige Anweisungen und versuchte, den obersten Knopf am Leuchten zu halten, denn das bedeutete, das Signal war direkt voraus. »Ein bisschen nach links, links … geradeaus. Nicht tiefer gehen. Auf 500 Fuß bleiben. Noch etwas nach links. Geradeaus.«
Er prüfte seine Karte. Eine Linie durch ihre Position gezogen und in die Richtung verlängert, in die sie flogen, reichte über die Grenze, aber nur ein wenig. Das hieß, Spinks war immer noch im Norden. Er warf einen Blick über die rechte Schulter auf ein Feld in einer halben Meile Entfernung. Am Rand, außerhalb des Waldes, befand sich ein Auto etwas von der Straße entfernt im Feld. Eine Person stand daneben und blickte zum Hubschrauber hoch. Er sah noch einen Moment hin und dann wieder auf den Empfänger des Transpondersignals.
Brennan saß vorn neben Sean, der den Bus steuerte. Sie hatten den Ort hinter sich gelassen und fuhren durch eine ländliche Gegend. Zwei weitere Männer saßen hinten auf der Kiste, die das einzige Objekt im Bus war. Sie waren mittleren Alters, hatten rote, wettergegerbte Gesichter, als hätten sie ihr ganzes Leben im Straßenbau unter freiem Himmel verbracht. Der Bus hielt an einer Kreuzung.
»Geradeaus«, sagte Brennan.
»Ich weiß, wo wir hinmüssen«, sagte Sean, der sich bewusst war, dass er mit dem Feuer spielte. Brennan Widerworte zu geben war wie russisches Roulette. Sean war sich nicht einmal sicher, wieso er überhaupt etwas gesagt hatte, abgesehen davon, dass Arroganz und Gesprächigkeit eben in seiner Natur lagen. Vielleicht hatte die Gefahr sein Blut in Wallung gebracht und er war streitlustig geworden. Brennan war nicht der Einzige, der zu ein wenig Wahnsinn fähig war, besonders hinter dem Steuer eines Wagens.
»Ist mir scheißegal, was du weißt. Tu einfach, was ich dir sage, wenn ich es sage, und keine Widerrede«, bellte Brennan. »Das ist kein scheiß Test, ob du die Gegend kennst. Selbst wenn wir durch dein Haus gehen würden, würde ich dir sagen, wo es langgeht. Vorlauter Bastard.«
Brennan war sich bewusst, dass er nicht so cool war wie normalerweise in seinem Job. Er hatte schon viel schlimmere Dinge getan als das hier, aber er war nervöser als sonst. Seine Augen waren überall, starrten in jedes Auto, das vorbeifuhr, in die Luft, hinter jede Hecke. Jede Meile näher an der Grenze steigerte seine Unruhe und seine Aufregung. Aber seine Angst zu versagen war größer als seine Angst vor einem Kampf. Das war in seine Seele eingegraben, eine Lektion, die er früh im Leben gelernt hatte. Er war 16 gewesen, als er das erste Mal jemandem in die Kniescheiben schoss, aber er musste warten, bis er 21 war, bevor er seine erste Exekution durchführen durfte. Es war an seinem Geburtstag gewesen und er hatte ein paar Drinks gehabt – nicht, dass er es gebraucht hätte, sich Mut anzutrinken. Die Jungs hatten es als kleine Überraschung und Feier seines Eintritts ins Erwachsenenalter vorbereitet. Das Opfer war ein 16-jähriger Protestant gewesen, den sie von der Straße geschnappt und in eine entlegene, ländliche Gegend gefahren hatten. Der Teenager war der Sohn eines bekannten Mitglieds der Ulster Volunteer Force, der zum Abschuss freigegeben war.
Nie würde Brennan das vergessen. Nicht, weil es sein erster Kill war, sondern weil er das nicht war. Er hatte es vermasselt, obwohl er alles den Anweisungen gemäß getan hatte. Den Lauf der Waffe hatte er dem Jungen mittig auf die Stirn gehalten, den Hahn gespannt, ihm in die Augen gesehen, irgendeinen fiesen Lebewohlspruch zum Besten gegeben und dann langsam den Abzug betätigt. Niemand hatte Brennan gesagt, er solle so ein Aufheben um das Geschwätz vor dem Schuss machen. Das Leid seines Opfers zu verlängern, indem er ihn qualvoll verspottete, war eine Art der Folter, für die er sich in diesem Moment entschieden hatte. Als er den Abzug zog, feuerte die Pistole und die Explosion trieb die Kugel durch den Kopf des Jungen und auf der anderen Seite wieder heraus. Das Gefühl, das Brennan in dem Moment empfand, als die Kugel aus dem Lauf donnerte, erstaunte ihn. Wie ein Gott hatte er sich gefühlt. Fasziniert hatte er den Rauch beobachtet, der aus dem Einschussloch kam, sowie er die Waffe vom Schädel des Jungen weggezogen hatte. Brennan erinnerte sich, dass er etwas von den Schmauchspuren um das Loch herum mit dem Finger verrieben und dem Jungen auf die Nasenspitze getupft hatte, während er zu ihm sagte: »Ruhe in Frieden.« Brennan und seine Freunde hatten den Jungen dann zuckend im Gras liegen lassen und waren wieder zum Pub gefahren.
Aber der Junge war nicht tot. Ein paar Stunden später wurde er von einem Farmer entdeckt, der mit seinem Hund vorbei ging, und schnell ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte konnten erst nicht verstehen, wie man so eine Wunde überleben konnte, und das noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Sie fanden heraus, dass die Kugel aufgrund des Einschlagswinkels im Schädel genau entlang des Knochens durch die Spalte gerast war, welche die beiden Hirnhälften trennte, und das Großhirn verfehlt hatte, bevor sie hinten wieder ausgetreten war. Die anderen machten sich über Brennan lustig und er schwor sich, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde.
Etwas störte Brennan an diesem speziellen Kidnapping, eine Anspannung, die er noch nie vorher empfunden hatte. Er hatte gegen die Paras, die Marines und die Spezialabteilung der RUC gekämpft, war auch ein oder zwei Mal mit dem SAS aneinandergeraten, aber noch nie hatte er sich mit den ›Pinks‹ angelegt. Sie machten ihn nervöser als alle anderen britischen Einheiten. Der SAS war schon schlimm genug. Jeder IRA-Soldat wusste, wenn man in einen Hinterhalt des SAS geriet, war es so gut wie vorbei, vor allem wenn niemand von der RUC da war, der dafür sorgte, dass sie einen nicht einfach erschossen, wenn man verwundet war. Der SAS war ein Haufen von Killern, Handschellen hatten die nur der Optik wegen dabei. Aber die Pinks waren aus einem entscheidenden Grund noch schlimmer: Sie waren in der einmaligen Position, das Spiel nach anderen Regeln zu spielen als alle anderen – nach ihren eigenen.
Die Pinks nahmen das Gesetz in die eigene Hand. Entweder das oder sie standen unter dem Befehl eines Bastards vom MI5 oder MI6, der die Regeln vorgab. Die britische Regierung würde so etwas nicht anordnen. Die IRA hatte schon lange dafür gesorgt, dass dieser Haufen aus Angst keinerlei inoffizielle Rachemorde durchführte. Die Politiker hatten nicht mehr das erforderliche Rückgrat für diese Art von Spiel, besonders jetzt nicht, da sie ein Teil der Europäischen Union waren. Die einzige britische Einheit, die eine Exekution planen und durchführen konnte, unabhängig von jeder übergeordneten Autorität, waren die Pinks. Was das alles für Brennan noch gefährlicher machte, war nicht die Tatsache, dass die Pinks einen Mord begehen würden, sondern dass sie anscheinend nur zu bereitwillig das Risiko auf sich nahmen, dafür illegal die Technologien und Ressourcen der britischen Armee einzusetzen. Sie bewegten sich in einem Minenfeld zwischen der IRA und ihrer eigenen Regierung. Ein unabhängiges Exekutionskommando. Er wusste, nicht alle Pinks ließen sich auf dieses hochriskante Spiel ein, und diejenigen, die es taten, setzten ihre Karriere aufs Spiel. Aber Tatsache war, wenn man einem Pink eine blutige Nase verpasste, dann war es nicht einfach vorbei, nur weil man davongekommen war. Man war zum Abschuss freigegeben, solange einer von ihnen bereit war, Rache zu nehmen. Außerdem standen ihnen diverse Mittel zur Verfügung, um jemanden aufzuspüren. Und Brennan hatte einen von ihnen hinten im Bus in einer Kiste! Kidnapping war das Schlimmste, was man ihnen antun konnte. Sie würden Rache fordern. Brennan war noch nicht über die Grenze, erst dann konnte er wieder aufatmen. Doch selbst wenn alles vorbei war, wäre er nicht sicher.
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