Es kann als Politikum gewertet werden, dass Paul Bauer als leitender Funktionär des für den Bergsport zuständigen Fachamtes gegenüber seinem obersten Dienstherrn heftige Kritik an der desaströsen Nanga-Parbat-Expedition übte. Die Vorwürfe richteten sich allerdings nicht gegen die unglückselige Strategie des unfähigen Expeditionsleiters Willy Merkl, sondern gegen Mitglieder der Expedition, die nicht verantwortlich waren für die Katastrophe:
„Es ist nun hier noch hinzuzufügen, daß ich gegen die NPE [Nanga Parbat-Expedition] von vorne herein schwerwiegende sachliche Bedenken hatte. Zwischen Welzenbach und mir haben seit langem im AAVM sachliche Meinungsverschiedenheiten bestanden. Welzenbach war der Mann, dem in erster Linie der alpine Erfolg etwas galt, während mir der Weg und die Art und Weise des Bergsteigens mehr zu sein dünken. Welzenbach war der Mann, der Rekorde anstrebte, der Mann, der sich als Bergsteigerkanone fühlte und diese Position systematisch angestrebt und ausgebaut hat. Demgegenüber vertrat ich eine ganz andere Anschauung und diese Anschauung ist im AAVM, dem wir beide angehörten, der Welzenbach’schen Art des Bergsteigens gegenüber siegreich geblieben. Dazu kommt noch, dass ich von jeher als alter Soldat mich fühlte, im AAVM konsequent einen nationalen und nationalsozialistischen Kurs verfolgte. Für uns war Adolf Hitler bereits 1923 der Mann, den wir nicht antasten ließen. Welzenbach hingegen gehörte der Bayer. Volkspartei an und stand mit einigen wenigen seiner Art in Opposition dagegen, die zwar mit ihren eigentlichen Gründen nie herausrückte, da sie im AAVM keinen Boden gefunden hätte, die aber auch zielsicher und verbissen war, wie unsere Einstellung. […]
Mit Welzenbach habe ich früher manche große Bergfahrt und Erstbegehung gemacht. Aber es fühlte doch jeder den geistigen Abstand vom Andern, und die gemeinsamen Bergfahrten hörten schließlich auf […]“ 28
Auch Willy Merkl, Erwin Schneider und der mit ihm befreundete württembergische Spitzenbergsteiger Hermann Hoerlin bleiben in Paul Bauers Schreiben an den mächtigsten Mann im deutschen Sport nicht unerwähnt:
„Welzenbach und Merkl und die ihnen nahestehenden Hörlin und Schneider hatten auch dafür, daß es sich hier um eine nationale Angelegenheit handele, kein Verständnis, sie bauten ihren Plan 1930, 31 und 32 auf die Teilnahme begüterter ausländischer Bergsteiger auf – Schneider und Hörlin gingen 1930 mit dem Judenstämmling Dyhrenfurth in den Himalaja, sie hatten dabei nicht einmal den Mut die deutsche Flagge zu hissen, sondern hissten die ‚schwäbische‘ und ‚tiroler‘ Flagge!!“ 29
Nachdem der ranghöchste Funktionsträger des deutschen Bergsteigens das Ansehen von Welzenbach und dessen Umfeld bei den nationalsozialistischen Machthabern auf diese Weise nachhaltig beschädigt hatte, machte er Erwin Schneider endgültig zu einer „Persona non grata“, als Paul Bauer am 17. Dezember 1934 dem Büro des Reichssportführers in einem persönlichen Gespräch mitteilte, dass der Tiroler Alpinist in einem 1932 im Magazin Der Bergsteiger erschienenen Artikel den „Führer“ Adolf Hitler persönlich beleidigt haben sollte. 30
Bei der Schilderung eines „Verhauers“ während der Erstbesteigung des Andengipfels Huascarán hatte sich der Tiroler erlaubt zu spotten: „Weinend treten wir den Rückzug an und versuchen nun, zur Einsicht gekommen und den Forderungen der heutigen Zeit folgend, rechts unser Heil. (Heil Adolf! Deutschland erwache!)“ 31
Willi Bernard, Erwin Schneider und Peter Aschenbrenner am Nanga Parbat (v. l. n. r.) .
Wenige Tage später setzte eine Kampagne gegen Erwin Schneider ein: Zugesagte Gelder für die Finanzierung einer für 1935 geplanten Expedition zum Nanga Parbat wurden zurückgezogen. Der Alpenverein, den der Tiroler bereits für seine Pläne gewonnen hatte, erhielt die Aufforderung, gegen Schneider und Aschenbrenner ein Ehrengerichtsverfahren einzuleiten. Bauer unterstellte den beiden, sie hätten ihre Expeditionskameraden im Stich gelassen. Die vom Ersten Vorsitzenden Raimund von Klebelsberg durchgeführte Untersuchung entkräftete alle gegen die beiden erhobenen Vorwürfe. Aber Paul Bauers Einschreiten hatte Schneiders Vorbereitungen so weit behindert, dass ihre Expedition nicht stattfinden konnte.
Der Fachamtsleiter hatte genau gewusst, dass Schneider und Aschenbrenner hervorragende Chancen gehabt hätten, den Gipfel des Nanga Parbat zu erreichen und damit als erste Menschen auf einem Achttausender zu stehen. Paul Bauer plante für das Jahr 1935 einen weiteren Versuch am Kangchenjunga mit dem Ziel, das Rennen um den ersten Achttausender für sich zu entscheiden. 32Dies lässt den Schluss zu, dass Bauers folgenschwere Denunziation darauf abzielte, seine aussichtsreichsten Konkurrenten schachmatt zu setzen.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Mitteilungen des Fachamtes Bergsteigen im März des folgenden Jahres in Fraktur titelten: „Keine deutsche Himalajaexpedition im Jahre 1935“. Paul Bauer verheimlichte nicht, wer die Notbremse gezogen hatte: „Der Herr Reichssportführer hat […] die Entscheidung getroffen, dass im Jahre 1935 von den deutschen Bergsteigern kein Angriff auf den Nanga Parbat unternommen werden soll, weil es zeitlich unmöglich wäre, ein neues Unternehmen entsprechend vorzubereiten, ohne die noch unvollendete Abwicklung des letzten zu vernachlässigen. Auch gebietet die Majestät des Todes Zurückhaltung.“ 33
Allerdings beharrte der DuÖAV auf seinem Vorhaben, eine weitere Expedition zum Nanga Parbat zu entsenden. Die Mehrheit im Hauptausschuss favorisierte in der Sitzung am 1. Juni 1935 explizit die Teilnahme von Erwin Schneider und Peter Aschenbrenner. Der neu in den Ausschuss gewählte Bauer-Vertraute Karl Wien äußerte mit Hinweis auf die ablehnende Haltung des Reichssportführers Bedenken gegen Schneider als Expeditionsleiter. Auf Antrag des Vereinsvorsitzenden Raimund von Klebelsberg billigte der Hauptausschuss schließlich einstimmig den Plan einer DuÖAV-Expedition zum Nanga Parbat im Jahr 1936 mit deutschen und österreichischen Teilnehmern. Philipp Borchers wurde mit den Vorbereitungen beauftragt. Diesem Beschluss stimmten alle Mitglieder des Hauptausschusses zu – auch die dem Fachamtsleiter nahestehenden Eugen Allwein, Lutz Pistor und Karl Wien. 34
Parallel zum Alpenverein bereitete auch Paul Bauer in Abstimmung mit dem Reichssportführer und gemeinsam mit Fritz Bechtold eine Expedition zum Nanga Parbat vor und veröffentlichte diese Absicht in der Augustausgabe der Mitteilungen des Fachamtes. Als Leiter der Expedition, die im Jahr 1937 stattfinden sollte, war derselbe Karl Wien vorgesehen, der als Hauptausschuss-Mitglied für eine Alpenvereinsexpedition zum selben Ziel gestimmt hatte.
Bereits auf verlorenem Posten, diskutierte der Hauptausschuss des DuÖAV am 30. und 31. August 1936 in Bregenz noch einmal ausführlich die zu entsendende Nanga-Parbat-Expedition und beharrte auf Philipp Borchers als Expeditionsleiter – gegen die drei Stimmen der Bauer-Fraktion. 35Es war das letzte Mal, dass das zuständige Entscheidungsgremium des größten Bergsteigerverbandes der Welt sich mit dem Thema beschäftigte.
Nach Ausschaltung des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins als Veranstalter von Expeditionen zu den Achttausendern machte sich Paul Bauer stringent daran, die unter seiner Ägide vollzogene weitgehende Gleichschaltung des deutschen Auslandsbergsteigens institutionell abzusichern. Und zwar durch die Einrichtung der sogenannten Deutschen Himalaja-Stiftung im Jahre 1936. Mit der Geschäftsführung bedachte Paul Bauer seinen bewährten Kameraden Peter Aufschnaiter. Einen besseren Chefadministrator hätte er sich kaum wünschen können. Denn Aufschnaiter war umfassend gebildet, beherrschte eine Vielzahl von Sprachen schriftlich und mündlich fast wie ein Muttersprachler, verfügte über hervorragende Kontakte im In- und Ausland, war bienenfleißig, sehr gut organisiert, wegen seiner bescheidenen, freundlichen Art allgemein beliebt – und seinem Freund und Vorgesetzten Paul Bauer bedingungslos ergeben. Diese Loyalität kennzeichnet auch die von Peter Aufschnaiter im Jahr 1939 verfasste Darstellung des Gründungsprozesses der Himalaja-Stiftung:
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