Er drückte sie an sich.
»Ich hoffe es, Liebster … denn, denk nur, wenn …«
Er küsste sie und sagte: »Vielleicht war’s ein Bergmann oder ein Fremder … am ehesten aber noch ein Landstreicher. Konnten wir ihn genau sehen? Nein! Dann hat er uns auch undeutlich gesehen und kann uns nicht beim Namen nennen. Und wenn’s ein Fremder ist, kennt er uns sowieso nicht …«
»Aber er könnte uns morgen in der Stadt sehen, erkennen … und davon erzählen …«, befürchtete sie.
»Was man in der Nacht gesehen, sieht meist am Tag ganz anders aus … Und würdest du einen Nackten, den du in der Nacht sahst, bekleidet bei Tag erkennen?«
Sie lachte. »Dich schon!«
In ihrem Kopf spukten tausend Ängste … Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, besonders in einer kleinen Stadt. Viele, viele Wölfe gab es da, und sie schlichen umeinander herum, zum Biss bereit, im gleichen Zwinger … Was sie taten, war weder gott- noch menschengefällig. Strafen würde man sie und lebenslang ächten, wenn es herauskäme. Die Lust war jetzt noch größer als zuvor, er war wie ein Teufel und sie wie eines Teufels Braut …. Sie hatten sich mit gehauchten Beschwichtigungen die schützende Nacht wieder herbeizitiert … Wenn schon geächtet, dann aus gehörigem Grund … Und nur der Mond hielt sein großes Auge auf sie, der ewig stumme … vergaß sie bestimmt im Abnehmen schnell …
Pietro Paolo Volpi aus Padua, groß und schlank, wiewohl nicht dürr, sprach nach den vielen Monaten seiner Reise schon sehr gut Deutsch. Schwarze Ringellocken umspielten seine Stirn. Er war es gewohnt, dass man ihn mit Tomaso, der in Paris lehrte, in einen Topf warf.
»Nein, Tomaso ist mein Bruder!«, sagte er zu Gerhard Bartholdi, dem Wesen mit der hohen Stimme und dachte: Wenn Rosenkohl sprechen könnte, würde es sich wohl so anhören … Der Attendorner Augustiner-Prior Hanno hatte ihm eine Empfehlung an den Großarchivar des Goslarer Rates mitgegeben, denn das Chorherren-Stift auf dem Riechenberg lag zu weit draußen vor der Stadtmmauer. Das war nichts für Volpis Zwecke, sollte er doch Goslar kennen lernen, die Stadt erleben, um … sie … beschreiben zu können … in diesem … Auftragsgedicht … Ein Nebelstreif zog ihm über Stirn und Seele, als er wieder daran denken musste. Er, dem die Sätze immer zugeflogen waren, verzweifelte schier bei dem Bemühen, auch nur die kleinste Silbe anzulocken. Die Fähigkeit, mit Worten zu malen, war ihm gänzlich abhanden gekommen … Angesichts von Tinte und Feder versiegte der Fluss der Ideen, und die Sterne der Beredsamkeit flohen das Firmament seines Geistes, wenn das weiße Blatt sich zeigte. Seit ihn die schöne Johanna kurz vor der geplanten Hochzeit zugunsten eines anderen verlassen hatte, verhielt sich das schon so.
Weder Strapazen noch Gefahren hatte Volpi auf seiner Forschungsreise in die Nordländer gescheut, um sich von diesem Übel abzulenken. Für den an Venus Verzweifelnden waren die unwegsamen Wälder der Germanen der ideale Zufluchtsort gewesen, denn wahrlich: Volpi hatte die transalpinen Bezirke noch ebenso wild vorgefunden, wie Tacitus vor fast 1500 Jahren. Wüste, Landstriche, rauhe Berge und Urwälder mit ein paar hochkultivierten und vor Geist und Entwicklung glänzenden Perlen darin. Die Alpenpässe hatte er bei Schnee und Eis überquert, rheinabwärts war es im Kahn gegangen bis Mainz, dann durch die Wetterau nach Marburg. Beim berühmten Dryander hatte Volpi lehrreiche Wochen verbracht, war anschließend mit Pferd und Wagen quer durch Westfalen, Mark und Berg nach Köln und weiter durch den Burgundischen Kreis gefahren, hatte Jülich, Limburg, Lüttich, Brabant, Utrecht gesehen, ja selbst Den Haag und Leiden, die berühmten Städte Hollands. Im Bogen durch Geldern nach Münster war er gekommen, über Hamburg und Lübeck an die Ostsee. Entschlossen, an Bord einer Kogge bis Wisby zu segeln, hatte er auf stürmischem Meere Schiffbruch erlitten und nur durch Gottes gnädiges Eingreifen lebendig Rügens Kreidefelsen erreicht. Und war wieder glücklich aufs Festland gelangt, war über Anklam, Stettin, Berlin, Brandenburg, Mägdeburg, Halberstadt gen Goslar geritten … Das viel gepriesene Rom des Nordens, mit seinen mehr als 40 Gotteshäusern und einer Stadtmauer mit unzähligen Türmen war näher und näher gekommen … Doch desto mehr hatte den Reisenden wieder Beklemmung umfangen. Schwer war es Volpi ums Herz geworden. Die Aussicht, über Erfurt und Nürnberg wieder auf die Alpen zusteuern zu müssen, erschien ihm wie ein drohendes Todesurteil. Drunten wartete bloß das alte Elend. So hatte er, um die Zeit zu dehnen, ausgiebig die unwegsamen Harzwälder erkundet, war mit zwei Maultieren durchs wilde Tal der Oker gestiegen, bis er vom Bergsattel aus den öden Brackenberg oder Bracken in der Ferne gewahrte … Nach anfänglichem Zögern ob der Erzählungen der Einheimischen – von Geistern und Monstren –, hatte er sich flugs selbst dort noch hinaufbegeben. Ohne indes bösem Spuk und leider auch keiner wilden Frau zu begegnen, hatte er in vier Tagen bewältigt, was selbst Euricius Cordus, der große Harzreisende, vor drei Jahrzehnten nicht gewagt … Einsam, in einer Erbsensuppe aus Nebel kauernd, hatte er einen Tag in der Höhe auf die Fernsicht gewartet und war über Gebühr für alle Unbill entschädigt worden. Bis zum Mägdeburger Dom hatte er blicken können und sich ausgemalt, auf diesem weltfernen Steinbrocken einen Garten mit Alpenpflanzen anzulegen … Volpis Rücken schmerzte noch vom letzten steilen Maultierritt bergab – die Heerstraße von Osterode und Clausthal herunter war es gegangen –, und sein Magen erinnerte ihn knurrend daran, nach dem faden Rübenmus im Auerhahn-Krug nichts mehr gegessen zu haben.
In der Sakristei der Goslarer Marktkirche Sankt Cosmas und Damian stand er nun also vor dem Adressaten seiner Empfehlung. Im typischen Wackelschritt der kleinen Leute bewegte sich dieser Bartholdi durch die Folianten-Schluchten des Ratsarchivs … Archivare solcher Größe dünkten Volpi für Goslar sehr passend, denn sie waren platzsparend. Diese stolze Stadt krankte an der Schmalheit. Von allen Städten in Deutschland, durch die Volpi gekommen war, besaßen Marburg und Goslar die engsten Gassen. Er hatte bereits Stellen gesehen, an denen sich Dächer überlappten!
»Gibt es denn zwei Volpis?«, fragte der Gnom aufblickend. Er erkannte die Handschrift des Freundes und einstigen Mentors und fügte hinzu: »Ich stehe in Hanno Schuld – er hat mich im Schreiben und Archivieren unterwiesen!«
»Warum habt Ihr das Attendorner Stift verlassen?«, fragte Volpi.
»Ich hatte keinerlei Weihe, ich war nur Schreiber und Kopist. Ich wollte aber noch nicht mit dem Leben abschließen, ich wollte erst die Welt sehen! Nach meiner Zeit bei den Chorherren bin ich erst lange herumgezogen, hab etwa gegen Geld für die Illiterati Liebesgedichte und Briefe geschrieben oder mich von fahrenden Wunderdoktoren als Kuriosität vorführen lassen … Auch mit Artisten bin ich herumgezogen! Eine Zeit lang … Schließlich landete ich in Goslar. Nach zwei Jahren als Bergschreiber in der Grube des Stifts Neuwerk hatte ich Glück im Unglück … im Bergunglück, wenn man so will. Bei einem Unfall wurde ich verletzt, und unter den Bergherrn, die sich ein Bild der Lage machten, war Daniel Jobst, Goslars reichster Wandschneider, der am Neuwerk Anteile besaß. Wir freundeten uns an – über die Literatur … Herr Jobst hat mich dem Rat empfohlen. Daraufhin durfte der alte Ratsarchivar endlich seinen Dienst quittieren und auf den Turm von Sankt Stephani ziehen …«
Bartholdi lächelte über diesen Erinnerungen und musterte Volpi aufmerksam. Diese Italiener waren von Natur aus dunkler, so schien es … Die schiere Höhe einmal außer Acht gelassen … Reisende Humanisten, fahrende Weltmänner – wie beneidete er sie! Sehr glücklich sah der Große aber nicht aus. Etwas schien ihm über die Leber zu laufen … Sah ganz nach einer Laus aus …
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