Die beiden Hauptleute, mit denen ich fortan als 03, als dritter Ordonnanzoffizier, zusammenarbeiten sollte, entgegneten nichts. Sie lauschten auf das sich zusehends verstärkende Artilleriefeuer. Oder war es der Hufschlag mehrerer Pferde, der plötzlich in der Nähe zu vernehmen war, was ihre Aufmerksamkeit erregte?
Ein in zwei Rotten geteilter Reitertrupp kam in Sicht. Die Reiter waren mit Karabinern bewaffnet. Auf ihren Köpfen saßen hohe schwarze Fellmützen. Zwischen den beiden Gruppen tappten im Laufschritt drei Zivilisten, zwei Männer und ein Mädchen mit offenem dunklem Haar. Der Trupp hielt an. Einer der Reiter saß ab, trat vor Hauptmann Peterhans hin, hob die Rechte an die Fellmütze und meldete etwas auf Russisch. Peterhans antwortete, indem er auf die Zivilisten deutete, die mit trotzig erhobenen Köpfen zwischen den unruhig tänzelnden Pferden standen. Schließlich verschwanden der Hauptmann und drei der Reiter, die jeder einen der Gefangenen, auch das Mädchen, vor sich herstießen, durch den Eingang, der zum Quartier der Abteilung Ic führte. Die übrigen Reiter trabten mit den ledigen Pferden davon.
»Das sind unsere Kosaken«, erklärte Hauptmann Scheffler. »Wir verwenden sie als Partisanenjäger. In diesem Fall allerdings scheint es sich um Fallschirmspringer, also vermutlich um Agenten, zu handeln, soviel ich verstanden habe.«
Er brach ab. Das Artilleriefeuer vor uns verdichtete sich zu einer donnernden Kanonade, die sich immer mehr verstärkte. Im Osten, wo die Höhe, die wir verloren hatten, sich schattenhaft abzeichnete, sprühten die Explosionsblitze der Einschläge. Weiße Leuchtkugeln stiegen hoch, gleich darauf grüne, ein Zeichen, dass der Gegenangriff angelaufen war. Die roten Schnüre der Leuchtspurgeschosse woben ein sich ständig veränderndes gespenstisches Muster durch die Nacht. Wenn man selbst mittendrin steckte, sah das alles ganz anders und viel weniger eindrucksvoll aus. Das war nun für mich der Krieg, den ich vor Kurzem noch einmal in seiner grausigen Bitterkeit erlebt hatte: Zuschauer aus der Ferne, aus der – wie ich annahm – Sicherheit des Stabsquartiers.
Doch wie es um die Sicherheit bestellt war, sollte ich sogleich erfahren. Feindliche Ferngeschütze griffen in das Gefecht ein. Auf der Nachschubstraße detonierten ihre schweren Koffer. Dann krachten die ersten Einschläge in Pokrowskaja, und die weit fliegenden Splitter trieben uns in Deckung.
Ich folgte Hauptmann Scheffler eine Treppe hinunter, deren Stufen aus den Schwellen einer abmontierten Bahnlinie bestanden. Wir gelangten in einen Raum, in dem elektrisches Licht brannte, das von einem Aggregat mit Strom versorgt wurde. Die Decke des Raumes war aus Beton und mit mächtigen Pfosten abgesteift. An einem Tisch unter der nackten Glühbirne saß Hauptmann Peterhans. Er hatte die Mütze abgenommen. Sein ergrautes Haar bildete einen Kranz um eine runde Glatze, die wie die Tonsur eines Kapuziners aussah. Vor dem Tisch standen das Mädchen und die beiden Männer, dahinter die drei Kosaken, die Karabiner im Anschlag.
Ich verstand kaum Russisch. Während des ganzen Feldzuges war ich nur selten mit der Bevölkerung in Berührung gekommen. Aber aus dem Ton, in dem das Mädchen soeben eine Frage des Hauptmanns beantwortete, hörte ich trotz aller Schärfe die Todesangst. Das mitunter zuckende Licht fiel auf ein bleiches, angespanntes Gesicht. Die dunklen Augen, unter langen schwarzen Wimpern halb verborgen, starrten zu Boden. Sie trug ein schäbiges graues Kleid, das eng ihren festen, runden Busen umspannte. Barfuß stand sie wie ihre beiden Genossen auf dem festgestampften Lehm des Unterstandes.
Hauptmann Scheffler gab mir einen Wink. Ich folgte ihm durch einen mit Bohlen verstärkten Türausschnitt, der mit einer Decke verhängt war, in den Nebenraum. Dort standen drei Holzpritschen, ähnlich jener, auf der ich droben in der Hauptkampflinie in meinem Bunker geschlafen hatte. Auch im Schlafraum gab es elektrisches Licht.
Der Ic wies auf eine Pritsche. »Das Bett Ihres Vorgängers, Herr Emser. Sie können die Decken übernehmen. Der arme Kleinmüller braucht ja keine mehr.«
»Wie ist das eigentlich passiert?«, fragte ich.
Hauptmann Scheffler zuckte die Schultern. »Tiefflieger. So ein dummer Zufallstreffer.«
»Und wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?«
Hauptmann Scheffler warf mir einen kurzen Blick zu. »Da hat wohl Verschiedenes mitgesprochen. Sie waren doch früher Regimentsadjutant. Im Übrigen sind Sie im Osten mehrfach verwundet worden. Der General war der Meinung, Sie hätten einmal einen ruhigeren Posten verdient. Ich glaube aber, er hatte noch einen besonderen Grund. Ist Ihnen wohl ziemlich nahegegangen – die Geschichte heute? Als ob die drüben gewusst hätten, dass gerade für Sie die Ablösung kam.«
»Es war wohl schon länger vorbereitet, Herr Hauptmann«, entgegnete ich.
»Natürlich war es vorbereitet«, bestätigte Hauptmann Scheffler. »Wir haben es erwartet, nur wussten wir nicht, wo der Gegner den Hauptstoß ansetzen würde. Er möchte hier aufräumen, verstehen Sie. Wir binden hier Kräfte, die er dringend weiter oben benötigt. Morgen zeige ich Ihnen die Feindkarte. Es wird eine Ihrer Aufgaben sein, sie jeweils auf den neuesten Stand zu bringen – keine reine Freude zur Zeit, Herr Emser.«
Aus dem größeren Raum drangen russische Flüche. Es war die Stimme von Hauptmann Peterhans. Dann hörte ich Rufe »Dawai!« – und »Bystra!« und Getrampel von schweren Stiefeln. Die Kosaken trieben die drei Gefangenen die Treppe hinauf.
Hauptmann Peterhans schob die Decke zur Seite. »Hat heut keinen Zweck mehr«, sagte er. »Sind halt verstockt. Wir wären’s auch. Die Kosaken haben ein Funkgerät sichergestellt. Wär nicht schlecht, wenn man die drei umdrehen könnt.«
»Das sind Fanatiker«, versetzte Hauptmann Scheffler. »Mit denen werden Sie kein Glück haben.«
»Kommt drauf an«, meinte der alte Dolmetscher. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch in diesem Augenblick läutete im dritten Raum der unterirdischen Behausung ein Fernsprecher. Ein Unteroffizier mit glattem, gescheiteltem Haar erschien und meldete dem Ic, er werde dringend vom vorgeschobenen Gefechtsstand verlangt.
Hauptmann Scheffler entfernte sich durch einen Stollengang, der so niedrig war, dass man nur gebückt gehen konnte. Er blieb einige Minuten aus. Als er wiederkam, zeigte sein kluges, rundes Gesicht einen tief betroffenen Ausdruck. »Meine Herren«, sagte er mit nur mühsam beherrschter Stimme. »Ich habe Ihnen eine erschütternde Mitteilung zu machen: Soeben habe ich die Nachricht erhalten, dass Herr General von Mahler, unser Divisionskommandeur, an der Spitze der stürmenden Truppe gefallen ist. Herr Oberst Staufer führt jetzt den Angriff, der zügig an Boden gewinnt.«
Ich dachte an meine kurzen Begegnungen mit dem General und an alles, was ich als kleiner Frontoffizier von ihm wusste. Er war ein Kavalier gewesen und zugleich ein vorbildlicher Truppenführer. »Wir sprechen uns morgen«, waren seine letzten Worte gewesen. Was mochte es wohl sein? Auch Hauptmann Scheffler hatte so eine Andeutung gemacht. Würde ich es nun nicht mehr erfahren? Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte kein Wort hervor. Schon einmal hatte ich einen gütigen, väterlichen Vorgesetzten verloren. Immer waren es die Besten, die der Krieg verschlang.
Hauptmann Scheffler nahm seinen Stahlhelm und seine Maschinenpistole von einem Wandhaken. »Ich fahre nach vorn«, sagte er. »Sie halten einstweilen die Stellung, meine Herren.«
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