»Jawohl, Herr Major«, antwortete ich, wieder gefasst. »Er besetzt mit dem Rest der Kompanie die Podwolnij-Höfe. Was ist mit den Panzern, Herr Major?«
»Vier sind abgeknallt. Einer muss sich verschossen haben. Die Besatzung hat ihn gesprengt. Der Letzte kurvt noch irgendwo ’rum. Egal – einer allein kann nichts ausrichten. Wie steht’s mit den Verlusten? Hoch?«
Ich teilte ihm die von Leutnant Lemke angegebenen Zahlen mit. Sechs Unteroffiziere und 22 Mann hatten am Sammelplatz gefehlt. Die Mehrzahl von ihnen war gefallen oder schwerverwundet in die Hand des Feindes geraten. Der Rest galt als vermisst.
»Ich schicke Sie mit einem Kradmelder zurück«, sagte Major Wilhelmi. »Lasse Sie ungern gehen – gerade jetzt. Aber die Division schreit nach Ihnen. Beim Regiment ist Hochbetrieb, wie Sie sich vorstellen können. In zwei Stunden soll ein Gegenangriff anlaufen. Vom Führer persönlich befohlen. Morgen früh muss die Stellung wieder in unserem Besitz sein. Vollzugsmeldung morgen früh fünf Uhr. Der General soll über diese Einmischung außer sich sein. Habe gerade mit dem Regimentskommandeur gesprochen. Die Division hat bei ihm einen vorgeschobenen Gefechtsstand eingerichtet. Sie können ja versuchen, sich beim General zu melden. Weiß nicht, ob er Zeit für Sie hat. Wenn nicht, fahren Sie gleich weiter nach Pokrowskaja. Den Kradmelder schicken Sie mir sofort zurück. Vielleicht brauche ich ihn heute Nacht.«
Bevor ich mich abmeldete, bat ich den Major, für die Verwundeten zu sorgen, die ich mitgebracht hatte.
»Machen wir«, sagte Major Wilhelmi. »Ich habe einen Doktor hier. Krankenwagen sind im Anrollen. Wird allerhand fällig werden heute Nacht, schätze ich.«
Leutnant Stapf hatte sich entfernt, um den Kradmelder zu mobilisieren. »Na ja, Herr Emser«, sagte Major Wilhelmi zum Abschied. »Nehmen Sie’s nicht so schwer. Hat ja einmal so kommen müssen. Eins gegen vier kann auf die Dauer nicht gut gehen. Wird im Übrigen bereinigt werden.«
Ich verließ den Bunker. Vor der Tür traf ich mit Leutnant Stapf zusammen. »Diesmal werden wir Zuschauer sein«, sagte er. »Die Kompanie Fromm ist aufgerieben. Mit Ihrer ist ja derzeit auch nichts auszurichten. Und die 12. haben wir abgegeben. Mal was anderes, sich den Zauber vom Feldherrnhügel aus anzusehen. Das dritte Mal jetzt, dass die Wolfsschanze einen Nachtangriff befiehlt. Im Juli war’s bei den 97er Jägern genauso. Nachts mussten sie die verlorene Höhe wieder holen. Und sie haben es geschafft.«
Der Motor des Krads knatterte schon. Ich nahm auf dem Soziussitz Platz. Wie eine Rakete schoss die Maschine los. Der Fahrer schien Gelände-Virtuose zu sein.
Mit Vollgas ratterte er durch die Schlucht und dann am Westausgang den steilen Hang hinauf. Erst als wir die gut ausgebaute De-Angelis-Straße erreichten, wurde mir wohler. Wir fuhren natürlich ohne Licht. Schwere Lkws, dicht mit Mannschaften besetzt, kamen uns entgegen, eine Batterie 8,8-Flak, eine Batterie Kanonen und eine lange Reihe kettenrasselnder Sturmgeschütze. Ich fragte mich, wo man das alles so schnell hergenommen hatte. Uns vorn in der Hauptkampflinie hatte man immer gesagt, wir seien auf uns gestellt und dürften mit nichts anderem rechnen.
Der Kradfahrer bog zum Regimentsgefechtsstand ab, der sich ebenfalls in einer der zahlreichen Schluchten befand, wo man halbwegs sicher vor Artilleriebeschuss war. Vor den Stabsbunkern wimmelte es von fremden Offizieren. Geländegängige Kraftwagen warteten mit laufenden Motoren. Einer davon führte den schwarzweiß-roten Divisionsstander am Kotflügel.
Gefolgt von unserem Regimentskommandeur trat der General aus einem Bunker. Ich war vom Krad abgestiegen und ging auf den General zu. Er hatte uns mehrmals in der Stellung besucht. Oberst Staufer, unser Regimentskommandeur, winkte ab, doch der General hatte mich schon bemerkt. Straff aufgerichtet kam er heran.
»Da sind Sie ja«, sagte er. Das goldene Eichenlaub am Kragen seiner Tropenfeldbluse gab seinen Rang zu erkennen. Am Hals schimmerte matt das Ritterkreuz. Ich meldete mich vorschriftsmäßig.
»Waren Sie schon unterwegs, als der Schlamassel anfing?«, fragte der Divisionskommandeur. Sein scharf geschnittenes, schmales Gesicht war dunkel gebräunt. Die grauen Augenbrauen wirkten wie weiße Striche.
»Nein, Herr General«, antwortete ich. »Ich bin vorn geblieben, weil ich mit einem Angriff rechnete, allerdings erst morgen früh.«
Er nickte. »Fahren Sie nach Pokrowskaja, Emser. Werde mal sehen, was sich da oben machen lässt. Ich habe eine Mitteilung für Sie. Aber nicht jetzt. Wir sprechen uns morgen.«
Er grüßte kurz und begab sich zu seinem Kübelwagen. Der Regimentskommandeur stieg nach ihm ein. Die beiden schienen es äußerst eilig zu haben.
Als ich knapp eine halbe Stunde später in dem auf einer Höhe gelegenen Trümmerdorf Pokrowskaja ankam, standen Hauptmann Scheffler, der Ic, und Hauptmann Peterhans, sein Dolmetscher-Offizier, vor der Ruine, unter der die Quartier- und Diensträume der Abteilung Ic lagen. Der Kradmelder riss seine Maschine herum und stob frontwärts davon.
»Bleiben Sie gleich hier, Herr Emser«, sagte Hauptmann Scheffler, mein neuer Vorgesetzter, nachdem ich mich gemeldet hatte. »Es wird bald losgehen. Von hier aus haben wir einen ausgezeichneten Überblick.«
Ich legte meinen Rucksack ab und lehnte meine Maschinenpistole neben den Eingang zu meiner künftigen unterirdischen Behausung. Hauptmann Scheffler, Reservist, im Zivilberuf Rechtsanwalt, war einmal im Juli mit dem Dolmetscheroffizier vorn in meiner Stellung gewesen, als wir einen schwerverwundeten russischen Major bei uns hatten, der sich, wie viele von der anderen Seite, als Gegner Stalins bezeichnete und wichtige Aussagen machen wollte. Er war vor der Ankunft der beiden gestorben.
»Ich habe dauernd gewarnt«, sagte der Ic. »Hauptmann Lutz, der Ic beim Jäger-Korps, war einer Meinung mit mir. Nichts zu wollen. Jetzt ist das eingetreten, was zu erwarten gewesen war. Und die Folge: ein verlustreicher Nachtangriff, der womöglich nicht einmal zum Ziel führen wird.«
»Ich bin dem Herrn General begegnet«, sagte ich.
»Er will den Angriff persönlich führen«, bemerkte Hauptmann Scheffler. »Oberstleutnant Frisch, unser Ia, hat versucht, es ihm auszureden. Natürlich ohne Erfolg. Diese neue Art der Befehlsgebung kann einen Divisionskommandeur zur Weißglut bringen. Überall mischt man sich hinein, und das Bedenkliche dabei ist, dass seit Stalingrad der Einzelne seinen Wert verloren hat. Bolschewistische Menschenverachtung, krass gesagt. Und was heißt denn überhaupt Kubanbrückenkopf? Wieder so ein Mythos, in Wirklichkeit aber eine Verlegenheitslösung, die uns vom Gegner aufgezwungen worden ist. Wären wir im März über die Straße von Kertsch zurückgegangen, anstatt uns hier festzubeißen, hätte die 17. Armee nicht die Hälfte ihres Bestandes verloren. Die Zangenbewegung hat sich ja in Noworossijsk und im Norden schon deutlich abgezeichnet. Unsere Infanteristen, Jäger und Gebirgsjäger haben die Lage gemeistert – nicht die Zentrale, die weit vom Schuss große Bogen spuckt.«
»Das Lieblingsthema von Hauptmann Scheffler«, warf Hauptmann Peterhans spöttisch ein. Er war der Aussprache nach Österreicher und sah wie ein uniformierter Schauspieler in einem Kriegsstück aus. Im Ersten Weltkrieg war er lange in Sibirien gefangengehalten worden. Dort hatte er auch sein Russisch gelernt.
In der Nähe begann unvermittelt eine Batterie schwerer Haubitzen zu feuern. Grell flammten die Mündungsblitze in der Dunkelheit auf, und der Paukenwirbel der Abschüsse hallte in lang rollendem Echo durch die hügelige Weite.
»Ich glaube, der Nachtangriff ist notwendig«, sagte ich. »Es ist doch anzunehmen, dass die Russen jetzt droben an der Einbruchstelle hineinpumpen, was sie haben. Morgen früh wäre es vielleicht schon zu spät.«
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