Als ich um eine der Windungen bog, stand Feldwebel Suhrmann vor mir. Er trug meinen Rucksack. »Wollte grade nach Ihnen sehen, Herr Oberleutnant«, sagte er, nahm mir das MG aus den Händen und lud es sich auf die Schulter. Der Patronengurt war jetzt leer.
»Los«, sagte ich, »weiter!«
»Nach Ihnen, Herr Oberleutnant«, gab Suhrmann gelassen zurück.
Bald erreichten wir die kritische Stelle, wo der Graben, dessen Sohle im letzten Stück immer höher anstieg, zu Ende war. Nun waren 20 Meter einer Grashalde zu überqueren, ehe die tief eingeschnittene Schlucht begann, in der wir eine Quelle zu einer primitiven Duschanlage gefasst hatten. Zuvor waren mehrere Schüsse gefallen. Als wir im Laufschritt den Graben verließen, schnarrte hinter uns ein russisches Maxim, und die Geschossgarben pfiffen nah vorbei. Ein Toter lag am Eingang zur Schlucht. Ich sprang in die schützende Deckung, stand geborgen und atmete tief auf. Suhrmann folgte mir. Auch er war unverletzt.
»Wie hat das nur passieren können, Herr Oberleutnant?«, murmelte er, als erlaube er erst jetzt seinen Gedanken, sich mit dem zu beschäftigen, was soeben geschehen war.
Die Kompanie hat die Höhenstellung verloren, dachte ich und hörte mich sagen: »Wie eben solche Sachen passieren, Suhrmann. Erdrutsch oder Hochwasser – etwas Ähnliches muss es gewesen sein.«
»Ja«, meinte Suhrmann, der Versebastler, »Iwan und Germanski haben beide keinen Platz im Graben.«
Wir kletterten und rutschten den steilen Hang hinunter. Abendschatten füllten die Schlucht, an deren Steilwänden gelb blühende Ginsterbüsche und lichtblaue Glockenblumen wuchsen. Der wolkenlose Himmel glühte im blutroten Schein des Sonnenunterganges. 19.30 Uhr. Vor einer Stunde hatte der Feuerschlag der russischen Artillerie begonnen.
Drunten beim Waschplatz hatte sich die Kompanie gesammelt. Sie standen mit hängenden Köpfen. Auf Krankentragen lagen Verwundete mit ihren Notverbänden. Unverändert rann das Quellwasser durch den durchlöcherten Margarineeimer. Erst am Morgen hatte ich inmitten einer Schar übermütiger nackter Gestalten ein Duschbad genommen. Doch jetzt war keinem zum Scherzen und Lachen zumute.
Leutnant Lemke kam uns entgegen. Sein Stahlhelm hing am Koppel. Das weit vorspringende Schild der Tropenmütze beschattete sein Gesicht.
»Fabelhaft, dass Sie es geschafft haben, Herr Emser«, sagte er. »Denken Sie, ich habe sogar noch meine Aufzeichnungen in Sicherheit bringen können.«
»Das dürfte entschieden die Hauptsache sein«, entgegnete ich. »Wie kam das denn, dass das Bataillon den Befehl zum Absetzen gab? Sonst heißt es doch immer: halten und durchhalten bis zum letzten Schuss und Atemzug.«
»Die Kompanie von Leutnant Fromm ist aufgerieben worden«, erklärte Lemke. »Fromm muss noch ganz zuletzt einen Funkspruch durchgegeben haben. Der Spruch vom Bataillon war der letzte, den wir aufnehmen konnten. Kurz danach ist das Gerät durch einen Treffer ausgefallen. Seither bin ich ohne Verbindung. Glauben Sie, dass die Russen nachstoßen werden?«
»Nein«, sagte ich, »jedenfalls nicht nachts. Ich schlage Ihnen vor, die Podwolnij-Höfe über dem Westausgang der Schlucht zu besetzen. Sind zwar nur noch Mauerreste da, aber Sie haben ausreichendes Schussfeld, falls doch etwas Überraschendes eintreten sollte.« Ich zog die Karte aus meiner Meldetasche und zeigte Leutnant Lemke den Weiler, der schon seit Anfang Juni völlig zusammengeschossen war.
Lemke schien dankbar für meinen Rat. »Sie gehen doch zum Bataillonsgefechtsstand«, sagte er. »Können Sie die gehfähigen Verwundeten mitnehmen und dafür sorgen, dass man Sankas zum neuen Standort schickt?« Er nannte die ungefähre Zahl der Verluste. »Genaue Meldung kann ich noch nicht machen.«
»Klar«, sagte ich, »es tauchen ja auch nachträglich meistens noch Vermisste auf.«
Bevor ich aufbrach, gab ich allen zum Abschied die Hand. Suhrmann reichte mir meinen Rucksack, den er für mich geborgen hatte. Die gehfähigen Verwundeten – ein halbes Dutzend niedergedrückter Gestalten – folgten mir.
Leutnant Lemke begleitete mich ein paar Schritte. »Dass das ausgerechnet heute Abend kommen musste«, sagte er. »Ich glaube, die 17. Armee hat auf ihrem Rückzug zu früh haltgemacht.«
Ich gab ihm im Stillen recht. »Machen Sie’s gut, Herr Lemke«, sagte ich. »Nehmen Sie’s nicht zu schwer. Wir können’s ja nicht ändern.«
Er ging zurück zur Kompanie, die er nun an meiner Stelle führte. Wir durchschritten die Schlucht. Im Westen verglomm das letzte verblassende Rot. Der Abendstern leuchtete schon strahlend hell. Man hörte keinen Gefechtslärm mehr. Die Artillerie von drüben schoss ihr übliches Störungsfeuer. Unsere Geschütze dagegen schwiegen.
Es wurde rasch dunkel. Am hohen rauchigen Himmel blinkten die sommerlichen Sternbilder des Ostens auf. Von Süden wehte ein warmer Wind. Als wir die Schlucht verlassen hatten und den Weg zum Kompanietross einschlugen, wo sich auch der Truppenverbandsplatz befand, tauchten plötzlich Schatten vor uns auf. Ich brachte die Maschinenpistole in Anschlag und rief: »Halt! Wer da?«
Die Schatten verschwanden im Gebüsch. Schüsse krachten. Wir warfen uns in Deckung und feuerten auf die Mündungsblitze. Geraschel, russische Flüche, dann wurde es still.
Wir warteten eine Weile, ehe wir unseren Weg fortsetzten. Ich nahm an, dass wir der Besatzung eines abgeschossenen feindlichen Panzers oder einem Spähtrupp der Russen begegnet waren. Das Brummen einer Polikarpow U-2, »Nähmaschine« genannt, wurde laut. Das Flugzeug zog hoch am nächtlichen Himmel weite Kreise. Ein Leuchtfallschirm pendelte herab. Zwei, drei Bomben detonierten mit laut dröhnendem Schall.
Beim Überqueren eines Hügels sahen wir weit zur Rechten Feuerschein. Es war wohl einer der durchgebrochenen Panzer, den eine Pak in Brand geschossen hatte. Unweit der Schlucht, in der der Kompanietross hauste, rief uns ein Posten an. Ich nannte die Parole. Sie hieß an diesem Tag groteskerweise »Ladenschluss«.
Befehl von oben
Die Stimme, die mich angerufen hatte, war fremd. Sie gehörte, wie ich sogleich feststellte, einem Mann vom Bataillonsstab, der mit vier anderen zur Sicherung über der Schlucht lag. Ein MG war schussbereit nach Osten gerichtet.
»Was habt denn ihr vor?«, fragte ich.
»Vorgeschobener Bataillonsgefechtsstand«, erklärte der Führer des kleinen Trupps. »Der Tross ist zurückverlegt worden.«
Ich lief, so schnell ich konnte, den Trampelpfad hinunter. Die Verwundeten, die bei mir waren, trotteten langsam hinter mir her. Vor dem Bunker, den sich unser Hauptfeldwebel eingerichtet hatte, stand ein Posten mit Stahlhelm und Maschinenpistole. Er erkannte mich und sagte, auf die Tür weisend, die aus einem zerstörten Dorf stammte: »Der Herr Major ist drinnen, Herr Oberleutnant.«
Ich öffnete die Tür, trat ein und schloss sie rasch hinter mir, da eine Petromaxlampe hellen Lichtschein in dem geradezu wohnlich ausgestatteten Bunkerraum verbreitete. Major Wilhelmi stand vor einer auf einem Tisch ausgebreiteten Karte. Mit einer Hand hielt er den Hörer des Feldfernsprechers ans Ohr, die andere bedeckte den von uns aufgegebenen Abschnitt auf der Karte. Neben ihm stand Leutnant Stapf, der Adjutant. Der Bataillonskommandeur nickte mir flüchtig zu. Stapf gab mir die Hand. Es war eine Geste stummer Anteilnahme, als hätte ich den Verlust eines nahen Angehörigen zu beklagen.
Major Wilhelmi sagte mehrmals »Jawohl, Herr Oberst«, dann legte er auf und läutete ab.
Ich begann auf einmal zu zittern wie unter heftigem Schüttelfrost und fühlte, wie es mir heiß in die Augen schoss. Nervenkollaps! Ich hatte es schon erlebt, dass standhafte Männer wie Kinder losheulten, wenn die Reaktion überwundener Schrecken sie überkam.
Major Wilhelmi, ein kleiner, untersetzter Herr mit breitem Brustkasten und rundem Kopf, packte mich an beiden Armen. »Beruhigen Sie sich, Emser«, sagte er. »Schöner Schock. Kann mir’s denken. Brauchen nicht drüber zu reden. Weiß schon alles. Fromm hat noch einen Funkspruch durchgegeben, als er schon von den Panzern überrollt war. ›Sie sind im Graben‹, waren seine letzten Worte, dann war die Verbindung abgerissen. Sieht böse aus. Rechts hat die ›Spielhahnfeder‹ mit ’ner verstärkten Kompanie abgeriegelt. Links ist es noch unklar. War ja nicht gerade ein freundlicher Empfang für Leutnant Lemke. Ist er unverletzt?«
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