»Es gab sie wirklich. Sie haben genau hier gelebt, in unserer Stadt.« Milla kannte die alten Lieder und Legenden, und sie hatte die Nistplätze der Drachen gesehen, die in die bröckelnden Mauern des alten Hauptplatzes eingelassen waren, aber das hier war etwas anderes, es war ein anschaulicher Beweis. Zum hundertsten Mal wünschte sie sich, früher gelebt zu haben, zur Zeit der Drachen.
Sie sah sich um und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl gewesen war, als hier echte Drachen lebten, doch die Drachenhalle war in einen Ballsaal verwandelt worden. Dutzende im Raum verteilte Feuerschalen spendeten Wärme, Lilien in hohen Kristallvasen verströmten ihren Duft, und an einer Längsseite des Raums reihten sich zahllose Tische aneinander, die mit köstlich duftenden Speisen beladen waren. Es gab gebratenes Lamm, glänzend schwarze Oliven, deftige Getreidesalate, die mit Granatapfelkernen, Koriander und Rosinen garniert waren, geräucherten Fisch, warme Brotlaibe frisch aus dem Ofen und Millas Lieblingsessen: gebackene Pfirsiche, aus denen noch der Saft herausquoll. Milla lief das Wasser im Mund zusammen, was ihr in Erinnerung rief, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatte.
In diesem Moment ertönte eine Fanfare und ein Herold rief: »Macht Platz für Seine Gnaden, Herzog Olwar Refarson!«
Zuerst kam Reihe um Reihe die Leibgarde, alle in der schwarzen Festlivree des Herzogs. Das dunkle Dröhnen der stampfenden Stiefel übertönte Millas Gedanken. Sie schwankte und griff Halt suchend nach Taryas Hand.
Die Leibgarde stand stramm und bildete eine Gasse. Alle drehten sich erwartungsvoll um.
Milla wollte endlich den Herzog sehen, von dem sie so viel gehört hatte, und blinzelte den Schwindel fort.
Drei Menschen durchschritten das Spalier der Garde und zogen alle Blicke auf sich: der Herzog, die Herzogin und ihr Sohn.
Die drahtigen weißblonden Haare des Herzogs standen ihm wie eine Krone zu Berge und ließen ihn noch größer wirken. Er lächelte und die Menge seufzte. Die Augen des Herzogs waren vom blassesten Blau, das Milla je gesehen hatte, sein Gesicht war faltig, aber immer noch attraktiv.
Die drei bestiegen ein kleines Podest, das von goldenen Seilen begrenzt und von brennenden Messingfackeln erhellt wurde.
»Willkommen zu meinem fünfzigsten Jubliläum.« Herzog Olwar schien im Lichtkreis der Fackeln golden zu leuchten. Er nickte in die Menge hinab, als wären die Menschen dort alle seine Kinder und nicht nur der hoch aufgeschossene dunkelhaarige junge Mann an seiner Seite.
»Das ist bestimmt sein Sohn Vigo«, flüsterte Tarya Milla hinter vorgehaltener Hand zu.
»Findest du ihn auch so gut aussehend, wie alle behaupten?«, fragte Milla sie neckend. Diese Menschen mit eigenen Augen zu sehen, gab ihr das Gefühl, in ein Märchen oder einen Traum hineinspaziert zu sein.
»Weiß ich noch nicht«, sagte Tarya zögernd.
»Hmm, das würde ich schon sagen«, meldete sich Isak neben ihr zu Wort, als handele es sich um eine knifflige Mathematikaufgabe, die gelöst werden wollte.
Als hätte er sie gehört, fiel Vigos neugieriger Blick auf die Zwillinge.
Tarya und Isak steckten die Köpfe zusammen und kicherten, bis Nestan sie streng ermahnte.
Als Vigos Mutter das Kichern hörte, lächelte sie freundlich zu ihnen hinab. Herzogin Serina war beliebt in der Unterstadt. Alle wussten, dass sie ihr eigenes Vermögen besaß, mit dem sie überall in der Stadt Heilende und Hebammen bezahlte. Es wurde sogar erzählt, dass sie Kranke selbst behandelte. Die tanzenden Lichter fielen auf ihre aufgedrehten, tiefschwarzen Zöpfe und die weiße Lilie hinter ihrem Ohr. In ihrem orangefarbenen Kleid war Serina ein leuchtender Farbfleck in einem Meer aus schwarzen Uniformen.
Der Herold trat vor und räusperte sich nervös. »Zu Ehren seines fünfzigsten Geburtstags wird Seine Gnaden vom heutigen Tag an den Namen Erster Drachenfürst von Arcosi tragen«, verkündete er.
»Drachenfürst?«
»Hat er Drachen gesagt?«
Die Versammelten summten wie ein Bienenschwarm.
Milla grub die Fingernägel in ihre feuchten Handflächen, um gegen die Hitze und das betäubende Hungergefühl anzukämpfen, das sie plötzlich überkam. Doch es war zu spät. Die Welt verschwamm vor ihren Augen zu einem Ozean aus bunten Punkten. Sie griff nach Taryas Hand, als wäre sie am Ertrinken.
»Milla! Was ist mit dir?« Tarya stützte sie. »Ist dir nicht gut?«
Sie durfte nicht in Ohnmacht fallen, nicht auf dem Ball des Herzogs. Sie war hier, um Tarya zu helfen, und nicht umgekehrt. Milla kämpfte gegen den Schwindel an, beugte sich vor und schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Mir ist nur zu heiß.« Ihr Gesicht und ihr Nacken fühlten sich klamm an, ihr purpurnes Kleid schwer und feucht. Sie atmete in tiefen Zügen und zwang sich, den Worten des Herzogs zu lauschen.
»Heute ist nicht nur mein Geburtstag«, sagte dieser. »Wir feiern heute Abend auch fünfzig Jahre in Arcosi. So lange ist es her, seit unsere Ahnen und Urahnen Hunger und Seuchen in den Norlanden entflohen und wohlbehalten diese Gestade erreichten. Fünfzig Jahre, seit unsere Gebete erhört wurden und wir Arcosi fanden, das auf uns wartete: unsere Zuflucht, leer wie eine verlassene Muschel, die auf ihren Einsiedlerkrebs wartet …«
Sie alle kannten diese Geschichte: das Märchen von Arcosi.
Tarya wandte sich zu Milla. »Ich wette, den interessanten Teil lässt er aus … den, wie seine Familie im Palast gelandet ist!«
»Psst!«, sagte Milla, die sich hastig umsah, ob das jemand mitbekommen hatte. Das war Unterstadtgerede, die Sorte, für die man verhaftet werden konnte. Alle wussten, dass sich auf den ramponierten, windgepeitschten Schiffen vor fünfzig Jahren keine Adligen befunden hatten. Herzog Olwars Vorfahren waren schlicht und einfach jene gewesen, die den Mund am weitesten aufgemacht, am härtesten gekämpft und sich den schönsten Teil der verlassenen Inselstadt unter den Nagel gerissen hatten.
»Warum? Es weiß doch jeder, dass er im Gegensatz zu seiner Frau kein echter Adliger ist«, zischte Tarya zurück. »Sie musste ihn bloß heiraten, um den Frieden zu besiegeln.«
»Nicht jetzt. Und nicht hier …«, fauchte Isak seiner Schwester mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Die Wachen schauen schon!«
»Warum?«, wiederholte Tarya. »Das ist die Wahrheit!«
Wieder drückte Milla ihre Hand und hoffte, dass sie die Botschaft verstand. Es war ein schmaler Grat zwischen Furchtlosigkeit und Leichtsinn, und sie war es gewohnt, dass Tarya sich darüber hinwegsetzte, aber heute Abend stand zu viel auf dem Spiel.
Nestan drehte sich um und funkelte die Zwillinge an. Wie ein Habicht sah er aus mit seiner dunklen Maske.
»Wir haben die alte Stadt wieder mit Leben gefüllt«, erklärte der Herzog gerade. »Und unsere Bemühungen stehen unter einem guten Stern. Unsere Schiffe werden mehr und unser Wohlstand nimmt zu. Unsere Kinder wachsen ohne Furcht auf.«
Manche vielleicht . Milla fühlte sich unbehaglich, diesem goldenen Herzog in Gedanken zu widersprechen. Tarya unterdrückte ein Gähnen.
»Zu Ehren dieses Tages – meines Geburtstags und der Ankunft unserer Vorfahren – mache ich mir das Symbol von Arcosi, der Geburtsstätte der Drachen, zu eigen.«
Bei diesem magischen Wort wurde es totenstill. Milla hielt den Atem an.
»Ich mache dieses stolze Bildnis von Arcosis Vergangenheit zu meinem Wappen. Die Drachen sind tot, auf rätselhafte Weise verschollen, genau wie die früheren Bewohner dieses Ortes …« Die Stadt war zwar voller Bilder der verschollenen Drachen: auf Schnitzereien und Statuen. Aber nicht eine dieser verwitterten Gravuren lieferte einen Hinweis darauf, wohin sie verschwunden waren.
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