Schon 1911 erkannte der Autor des Buches »Der kommende Krieg«, Francis Delaisi, wie Verwicklungen von Politik, Wirtschaft und Banken den Frieden gefährden (© Abb. 13)
In der Tat hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Kriegsmotive und -ziele vollkommen verändert. Ging es Bismarck im deutschen Einigungskrieg von 1870/71 noch um Annexion und Eroberung, machten sich nun Kaufleute, Banker und Industrielle auf der ganzen Welt gegenseitig Absatzmärkte, Eisenbahnaufträge, Anleihen und Minenkonzessionen streitig. Konnte man sich nicht verständigen, griff man zur Ultima ratio der Waffen. Das war erstmalig 1895 zu beobachten, als die Japaner mit den Chinesen um die Ausbeutung von Korea stritten. 1898 gerieten die US-Amerikaner mit den Spaniern wegen Cuba und den Philippinen aneinander, und ein Jahr später überfielen die Engländer die Buren wegen deren Minen in Transvaal. 1900 schickten Europa und die USA Expeditionsarmeen in den chinesischen Boxeraufstand, um die sogenannte »Politik der offenen Tür« durchzusetzen: Für den Handel sollte die Tür offen stehen, und wenn nicht, durfte sie eingetreten werden. So wurden den Chinesen z. B. Eisenbahnen aufgenötigt. Nur um zu entscheiden, wer die Mandschurei ausbeuten dürfe, massakrierten sich 1904/05 über 18 Monate lang gegenseitig Russen und Japaner.
All diese blutigen Kriege brachten den Siegern kaum erwähnenswerten Gebietszuwachs. Die Beute blieb vielen verborgen: Es waren die Absatzmärkte, die Eisenbahnen, die Anleihen und die Zolltarife. Für diese Kriege der »Dividenden« musste die jeweilige Propaganda den Gegner dämonisieren. Diese Aufgabe übernahm – und das in allen Ländern – eine wenn nicht käufliche, doch zumindest kritik- und gedankenlose Presse und erleichterte es damit der Geldoligarchie, ihre Geschäftskriege zu führen. Das galt besonders für die durch ihre Lage und Geschichte bevorzugten Briten, sie erschienen Walter Rathenau »als die Erben der Römer, als die überlebenden Rivalen der Venezianer und Holländer« 213.
Dank Stahl, Kohle und Erfindungsgeist nahm die Seemacht England vor allen anderen Nationen eine unvergleichliche industrielle Entwicklung. Begünstigt durch die Insellage, konnten während eines ganzen Jahrhunderts die Webereien von Manchester und die Metallfabriken Birminghams ihre Erzeugnisse über den Erdball verbreiten und immensen Gewinn anhäufen. Nur Frankreich wagte zaghafte Konkurrenz. Dessen Unternehmer schimpften auf das »perfide Albion« – stehender Begriff für die vermeintliche Hinterhältigkeit der englischen Außenpolitik. 214Doch schließlich verzichtete die französische Oligarchie im Jahr 1898 im Zuge des Faschoda-Zwischenfalls – der britische Lord Kitchener ließ im Sudan die Trikolore einholen – auf jeden weiteren Anspruch als Großmacht. England war der unbestrittene Herrscher der Welt. Es hatte am Ende des 18. Jahrhunderts die Trümmer der vorangegangenen Großmächte Holland und Frankreich zielgerichtet eingesammelt. »Jetzt, nach einem Jahrhundert der Herrschaft«, schrieb 1908 auf den asiatischen Schlachtfeldern der hervorragendste strategische Mitarbeiter von Sun Yat-Sen, der US-Amerikaner Homer Lea: »… einer so überlegenen Herrschaft wie die Menschheit sie nie zuvor gekannt hat, sieht sich das Britische Empire einem Kampf um den Besitz von einem Drittel der Welt gegenüber, bedroht nicht nur von einer einzelnen Macht, sondern von vier Mächten. Jede dieser Mächte ist vergleichsweise besser in der Lage, den Engländern die Herrschaft zu entreissen, als die Angelsachsen selbst es waren, als sie von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ihr Empire mit Waffengewalt von Portugal, Spanien, Holland und Frankreich zusammenraubten.« 215
Deutschland war indes ohne natürlichen Schutz und von rivalisierenden Völkern umgeben. Noch dazu wurde die wirtschaftliche Entwicklung bei nur mäßigen Bodenschätzen in den nördlichen Landesteilen alle hundert Jahre durch Kriege und Einbrüche regelrecht zertreten. So bildeten die deutschen Lande den Gegensatz zu Englands und Amerikas bevorzugter Lage.
Bis 1870 waren die Länder des deutschen Bundes ausschließlich Agrarstaaten. Da die Böden nicht überall ertragreich waren, wanderten Jahr für Jahr zwischen 100 000 und 200 000 junge Deutsche nach Amerika aus. Nach dem Einigungskrieg suchte Bismarck – und später Kaiser Wilhelm II. – das Deutsche Reich nach englischem Vorbild in einen Industriestaat umzuwandeln. An Rhein und Ruhr entstanden in atemberaubender Schnelligkeit Hochöfen, Stahlwerke und Eisengießereien. Auf den Werften an Nord- und Ostsee wurde eine Handelsflotte auf Kiel gelegt, die Häfen sorgfältig auf ihre kommenden Aufgaben vorbereitet, Eisenbahnnetze ausgebaut und Flüsse kanalisiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts erhöhten die Industrien der imperialistischen Länder rücksichtslos die Produktion, um ihre Waren vor dem Konkurrenten an den Mann zu bringen. Das veranlasste Friedrich Engels zu dem noch heute gültigen Kommentar: »Es wird produziert, als wären ein paar tausend Millionen neuer Konsumenten auf dem Monde entdeckt worden.« 216
Noch schauten die Briten herablassend auf die deutschen Vettern. Um vor deutschem »Schund« zu warnen, wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem alle Waren deutscher Herkunft die Marke »Made in Germany« tragen mussten. Wie groß muss das Erstaunen und die Wut gewesen sein, als festgestellt wurde, dass dieser Diskreditierungsstempel die deutschen Waren adelte. Obendrein kamen aus allen Teilen der Welt von den zur Überwachung des Handels aufgerufenen englischen Konsulen Berichte über die zunehmende Geschäftstätigkeit deutscher Kaufleute, Unternehmer und Ingenieure. Zugleich verlangsamte sich die Entwicklung des englischen Handels, während der deutsche ungeahnte Höhen erklomm. Umgekehrt dazu verhielt sich das Auswanderungsverhalten. Während die Auswanderungszahlen der Briten und Italiener stiegen, fielen die der Deutschen fast bis auf null. Ist das etwa kein Indiz für ein prosperierendes Deutsches Reich? 217
Das Auswanderungsbestreben der Deutschen ging während der Regierungszeit Wilhelms II. stark zurück (© Abb. 14)
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behauptete sich die englische Wirtschaft durch globale Führung und Meisterschaft. Großbritannien regierte das Meer und war Marktplatz wie Messe aller Länder: der Rialto der Welt. Doch langsam entwickelte sich ein relativer Rückgang im Vergleich zum beispiellosen Aufschwung der Vereinigten Staaten und Deutschlands.
Zur industriellen Avantgarde gehörte die deutsche Chemieindustrie. Sie hatte im Wettrennen um die Weltmärkte erstaunliche Erfolge erzielt. Die Badischen Anilin- und Sodafabriken Ludwigshafen (BASF) hatten um 1875 nur 885 Mitarbeiter, 25 Jahre später waren es 6700 und 1914 schon 11 000. Weltgeltung und Profite waren ebenso rasch mitgewachsen.
Carl Duisberg, damals Direktor und Vorstandsmitglied der Bayer AG, organisierte zunächst Kartellabsprachen zwischen den sechs großen deutschen Chemiebetrieben, um dann 1904 seinen Plan »zur Sicherung der bedeutsamen Rolle der deutschen Farbenindustrie in der ganzen Welt« 218vorzulegen. Am 8. Oktober 1904 unterzeichneten die Vorstandsvorsitzenden von BASF, Bayer und Agfa im Berliner Kaiserhof die Denkschrift – die erste Interessengemeinschaft (I. G.) war geboren. Aus dieser Keimzelle sollte gut 20 Jahre später I. G. Farben entstehen – der größte Chemiekonzern der Welt. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs schwebte Duisberg eine künftige Wirtschaftsunion mit Frankreich, den mitteleuropäischen Ländern und Dänemark unter Führung der deutschen Chemieindustrie vor. 1931 ging Duisberg sogar noch weiter und forderte eine Wirtschaftsunion von Bordeaux bis nach Sofia im Interesse der deutschen Chemie.
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