Inspiriert durch die viertägigen Feierlichkeiten zum Thronjubiläum des als Friedenskaiser gefeierten Wilhelm II. schrieb der damals 15-jährige Bertolt Brecht folgende Verse in sein Tagebuch:
Und wenn am Abend wir sinken
u. sterben den Heldentod,
dann soll uns tröstend winken
die Fahne schwarz-weiß-rot.
...
Der Wind soll in ihr singen:
Du hast deine Pflicht getan!
Du starbst im Kampf u. Ringen
als treuer, deutscher Mann. 184
Hatte der junge Brecht im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen Vorahnungen?
Am 13. Juni nahm Wilhelm II. auf der Döberitzer Heerstraße in Berlin die Parade der Wagen ab, welche der Kaiserliche Automobilclub zu Ehren seines Thronjubiläums organisiert hatte. 185
Ludwig Geiger, Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums, hob am 13. Juni auf der Titelseite die 25 Regierungsjahre des Kaisers als eine Zeit gesegneten Friedens hervor, stellte ihn als leuchtendes Beispiel unermüdlicher Tätigkeit hin, etwa für die Sozialreform sowie den nationalen Arbeiterschutz. Es sei des Kaisers fester Wille, »daß die Gesetzgebung auf dem Gebiete der sozialpolitischen Fürsorge nicht ruhe und auf den Schutz und das Wohl der Schwachen und Bedürftigen fortgesetzt bedacht sei«. Geiger lobte zudem die Reden Wilhelms II., die »von einem ungeheuren Schwung, oft von einer elementaren Kraft« seien, doch führe das heißblütige Temperament des Kaisers »gelegentlich auch zu Entgleisungen und Ausschreitungen« 186. In einem kurzen Rückblick konstatierte er, dass Preußen und Deutschland eine führende Rolle in der Welt spiele, »zwar viel beneidet und angefeindet, nicht überall geliebt, vielleicht auch manchmal befehdet und zurückgedrängt« werde, aber »im allgemeinen mit Stolz auf die Vergangenheit sehen und mit Ruhe, wenn sich auch in sie gelegentlich Bangigkeit einmischt, der Zukunft entgegensehen« könne. 187
Reichstagspräsident Johannes Kaempf betonte in seiner Festrede hingegen die ernste Lage, drückte aber dennoch das felsenfeste Vertrauen aus, »daß der Kaiser das bleiben wird, was er war und was er ist: der Friedensfürst, der das Kriegsschwert nur ziehen würde, wenn es gälte, die Lebensbedingungen des deutschen Volkes zu verteidigen« 188.
Von US-Präsident Wilson lag ein Gratulationstelegramm vor: »In der aufrichtigen Hoffnung, daß eine lange Dauer Eurer Majestät segensreicher, friedlicher Regierung dem großen deutschen Volke wachsenden Segen bringen möge, bringe ich Euer Majestät die herzlichsten Glückwünsche der Regierung und des Volkes zum 25jährigen Tage von Euer Thronbesteigung dar.« 189
In der Ergebenheitsadresse der englischen Kirchen betonte Bischof Boyd Carpenter den außergewöhnlichen Fortschritt in der materiellen, moralischen und intellektuellen Wohlfahrt des deutschen und seines eigenen Volkes, um dann festzustellen: »Ein solcher Fortschritt ist nur möglich, wenn die Völker frei sind von den Besorgnissen und Störungen des Krieges, und wir erkennen es mit Dankbarkeit an, daß die Erhaltung des europäischen Friedens nächst Gott in nicht geringem Maße auf den früh gebildeten und unermüdlich festgehaltenen Entschluß Eurer Majestät zurückzuführen ist, die Segnungen des Friedens zu fördern und zu erhalten«. 190Das sollte sich jedoch noch als äußerst schwierig erweisen.
Frappierende Ähnlichkeit: der russische Zar Nikolaus II. (li.) und sein Vetter, König George V. von England, 1913 in Berlin anlässlich des Regierungsjubiläums Wilhelms II., ebenfalls ein Cousin (© Abb. 12)
Am 29. Juni 1913 griffen bulgarische Truppen gleichzeitig Griechenland und Serbien an. Rumänien und die Türkei sprangen ihnen bei. Während die Rumänen fast kampflos auf Sofia marschierten, eroberten die Türken Adrianopel zurück. Nun sahen sich die Bulgaren von vier feindlichen Mächten umringt und konnten nur noch um Frieden bitten. Der slawische Bruderkrieg forderte große Opfer, und Bulgarien büßte etwa 6000 Quadratkilometer ein.
Im Vertrag von Bukarest vom 10. August 1913 erhielt Griechenland den größten Teil Makedoniens, das sogenannte Ägäis-Makedonien, während Serbien Vardar-Makedonien, das heutige Mazedonien, zugeschlagen bekam. Dagegen ging der Süden der Dobrudscha an Rumänien und Ostthrakien mit Adrianopel zurück an das Osmanische Reich. Diese Verschiebungen hatten ca. 60 500 Soldaten (18 500 Serben, 2500 Griechen, 1500 Rumänen, 20 000 Türken und 18 000 Bulgaren) 191das Leben gekostet. Noch heute zeigt der damalige Kriegseintritt Rumäniens Nachwirkungen bei den Bulgaren, die gegenseitigen Animositäten sind auch nach hundert Jahren deutlich zu spüren.
Auch Russland muss als Verlierer gesehen werden, denn der unter seinem Patronat so mühselig zustande gekommene Balkanbund war geplatzt. Warum hatte es die Chance, es auf einen europäischen Konflikt ankommen zu lassen und zusammen mit den erfolgreichen Serben dem Panslawismus zum Sieg zu verhelfen, nicht genutzt? Eine mögliche Antwort kommt aus der deutschen Botschaft in St. Petersburg. An deren Spitze stand bis zum Kriegsausbruch 1915 Graf Friedrich Pourtalès. Seit den Unruhen von 1905 weitete sich in Russland der Graben zwischen Regierung und Gesellschaft beständig. Die Gegner des Zarenregimes setzten »all ihre Hoffnungen auf einen auswärtigen Zusammenstoß«, so wurde aus dem deutschen Konsulat berichtet. 192Unter einer scheinbaren äußerlichen Ruhe und Ordnung brodele es unterirdisch weiter, während der Hass unter Bauern, Arbeitern und Intelligenz steige. Botschafter Pourtalès berichtete von einer vertraulichen Unterredung mit dem reaktionären Reichsratsmitglied Petr Nikolajewitsch Durnowo, der zu ihm im November 1913 gesagt habe: »Das einzige Mittel, die Duma wirklich herunterzudrücken, ist ein Krieg!« 193
Nach Lageanalyse des Botschaftsrats Hellmuth Lucius von Stoedten gab es zu diesem Zeitpunkt »keinem Zweifel, daß beim Ausbruch eines Krieges die Revolution sofort, und zwar in anderem Umfang als 1905, ausbrechen würde« 194und, so folgerte Lucius, dass es »daher jedes Kabinett vermeiden (werde), durch eine zu Konflikten führende äußere Politik den Umstürzlern die erhoffte günstige Gelegenheit zum Hervortreten zu geben« 195.
Das russische Revolutionspotenzial schätzte Kaiser Wilhelm II. wohl ähnlich ein. Gegenüber dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold äußerte er Ende 1913, dass man weiterhin mit einer Revolution rechnen müsse, was für die Mittelmächte von großem Vorteil sei. 196
Auch das Verhältnis zwischen Albanien und Serbien war nicht unbelastet. Ende September 1913 belagerten 6000 aufständische Albaner die serbische Stadt Dibra. Angesichts der Vorgänge fühlte sich Serbien gezwungen, entschlossen zu handeln, und berief drei Reservejahrgänge ein. Der russische Geschäftsträger in Belgrad Strandmann meldete am 25. September an das Außenministerium in St. Petersburg, dass Serbien »das Verhalten Österreichs in dieser Frage vollkommen gleichgültig sei, da die Nachbarmonarchie jetzt keine aktiven Schritte unternehmen werde; wenn überdies sehr viele geeignete Gelegenheiten seitens Österreichs unausgenutzt geblieben sind, so schreibt dies die serbische Regierung auch der gemäßigten Haltung Deutschlands zu« 197. Weiter kam Strandmann zu dem Schluss, dass die serbische Regierung die Lage in Albanien dazu benützen würde, um »1. eine Grenzberichtigung zu erlangen und 2. in dem neuen Nachbarstaate eine zu Serbien freundschaftliche stehende und nicht dem Einfluß Österreichs unterliegende Regierung zu schaffen.« 198
In einem Geheimtelegramm nach London mit Abschriften nach Paris, Konstantinopel, Sofia, Athen und Cetinje, der alten Hauptstadt Montenegros, erkannte das russische Außenministerium das Recht Serbiens an, energische Mittel gegen die Albaner zu ergreifen, welche die Grenze verletzten und Unruhen erregten. Am 15. Oktober erklärte Pašić dem österreichischen Legationsrat Ritter von Storck auf die Frage, wann die auf albanischem Territorium stehenden serbischen Truppen zurückgezogen werden sollen, das »würde von der Entwicklung der Verhältnisse in Albanien abhängen. Solange den serbischen Positionen kampfbereite Arnautenbanden gegenüberstünden, werde diese Räumung nicht erfolgen« 199.
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